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Revolution - Erzählungen

Revolution - Erzählungen

Titel: Revolution - Erzählungen
Autoren: Jakob Ejersbo
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Später gehen wir zum Spielen nach draußen, und ich vergesse den Vorfall, bis wir gegessen haben und Vater sich aufs Sofa setzt.
    »Sofie, komm mal her.« Ich setze mich neben ihn, er legt mir einen Arm um die Schulter. »Sofie, du sollst die grönländischen Kinder nicht mit nach Hause bringen.«
    Aber ich bin doch Grönländerin, weil Mutter eine Grönländerin ist.
    »Warum nicht?«
    »Sie müssen nicht sehen, wie schön wir wohnen«, sagt er. »Sie werden sonst bloß traurig.«
    »Wieso sollten sie traurig werden?«
    »Weil wir so schön wohnen, und sie müssen in den kleinen, schlechten Häusern leben.«
    Ich erwidere nichts, finde es aber sehr eigenartig. Vielleicht sind sie ihm nicht vornehm genug?
    Meine Eltern haben sich 1950 auf einem Schiff kennengelernt, als Vater unterwegs nach Grönland war. Es gab ein Klavier an Bord, und Vater hatte seine Gitarre dabei. Meine Mutter spielte Klavier. Hübsche Musik. Sie hatte in Dänemark eine Buchbinderlehre beendet und wollte nun ihre Familie besuchen. Sie hat in einer Firma gelernt, in der sie winzig kleine Bücher von Hans Christian Andersen gebunden haben, mit einem einzigen Märchen in jedem Buch. Sie konnte nie in ihrem Beruf arbeiten. Auf Grönland werden keine Bücher gebunden. Sie heiratete und bekam meine beiden großen Schwestern, dann mich.
    Meine Mutter ist hundertprozentige Grönländerin, beide Eltern sprechen nur Grönländisch. Aber in der Familie meines Großvaters gab es einen Norweger und in der Familie meiner Großmutter einen Deutschen. Und ein Zweig der Familie meiner Mutter kann sich ab 1775 auf dänisches Blut berufen. Mein Großvater ist tatsächlich blauäugig, und meine Großmutter hat Locken – so etwas gibt es bei Grönländern nicht, es muss also ziemlich viel weißes Blut dabei sein.
    Als meine Mutter ein Kind war, arbeitete ihr Vater als Katechet, also als Hilfsprediger, und danach als Schullehrer. Er bekam seinen Lohn in Geld ausbezahlt. Damals hatten die meisten nur das, was sie fingen, und vielleicht ein bisschen Geld von dem Teil des Fangs, den sie verkaufen konnten, aber das war sehr wenig. Man kann also schon sagen, dass Mutter aus einer wohlhabenden Familie stammt, obwohl sie sechzehn Kinder waren – Großvater brachte vier Kinder aus erster Ehe mit und bekam zwölf mit Großmutter. Jetzt sind sie sehr alt. Sie wohnen noch immer in dem kleinen, grauen Haus, das hinter der alten Kirche von Nuuk steht. Ein Wohnzimmer, eine Küche und ein erster Stock mit zwei Zimmern.
    Großvater sagt, Mutter hätte schon immer »soziale Ambitionen« gehabt. Jedenfalls wollte sie keine arme Grönländerin mit einem Trinker als Mann werden. Und tatsächlich hat sie zu Hause das Heft in der Hand. Wir müssen ordentlich sitzen, anständig sprechen, die Knie aneinanderlegen und gute Hausfrauen werden – jedenfalls meine großen Schwestern. Ich hab’s leichter, weil ich die jüngste und Vaters Augenstern bin. Meine großen Schwestern haben ihre festen Pflichten im Haushalt, auch bei den großen, schweren Sachen. Sie müssen bei der großen Wäsche an den Holzzubern helfen, wo alles mit der Hand ausgewrungen wird. Aber dann bekommt Mutter als Erste in der Stadt eine Wringmaschine und eine Waschmaschine, denn Vater ist schließlich gelernter Maschinenarbeiter und Leiter des Elektrizitätswerks der Stadt und kennt sich in technischen Dingen aus.
    1964 ziehen wir nach Holsteinsborg an die Westküste Grönlands. Meine Eltern haben ein kleines Tanzorchester, und jeden Freitag und Samstag ist Tanz im Versammlungshaus, in dem ein Klavier steht. Ich bin nicht alt genug, um mitzukommen, aber meine großen Schwestern nehmen mich mit, und ich darf durchs Fenster gucken. Der Raum ist voller Menschen. Vater und Mutter spielen Polka auf dem Klavier und der Gitarre, ein Däne spielt Schlagzeug, und alle tanzen und lachen. Als wir nach Hause gehen, hören wir einen Mann, der sich übergibt. Meine Schwestern gehen einfach weiter.
    »Wir müssen ihm helfen, er ist doch krank«, sage ich. Sie lachen, als einige streunende Hunde in seine Richtung laufen.
    »Er ist bloß besoffen«, sagt meine älteste Schwester. »Jetzt rennen die Hunde hin und fressen seine Kotze.«
    Zu Hause im Wohnzimmer steht auch ein Klavier, dort übt das Orchester – meine Eltern und ein paar von den dänischen Männern, die Schlagzeug und Bass spielen können. Meine älteste Schwester darf The Girl from Ipanema singen.
    Jeden Sommer steigt die Einwohnerzahl der Stadt auf mehr als das Doppelte
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