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Rettungslos

Titel: Rettungslos
Autoren: van der Vlugt Simone
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solle man lieber passiv bleiben, damit die Situation nicht eskaliere.
    Ob die Psychologin aus eigener Erfahrung sprach oder angelesenes Wissen wiedergab, weiß Lisa nicht, aber sie ist fest entschlossen, den Rat zu beherzigen.
    Aus den Augenwinkeln sieht sie zu Kreuger hin. Er sitzt leicht vorgebeugt und angespannt auf dem Sessel … Plötzlich springt er auf und flucht so heftig, dass Lisa zusammenzuckt.
    Mit dem Messer in der Hand geht er rastlos im Zimmer auf und ab. Lisa ist inzwischen schleierhaft, wie sie vorhin einen Fluchtversuch wagen konnte. Der Mann hätte ihr ohne Weiteres die Kehle durchschneiden können. Das kann er übrigens noch immer. Ihr wird bewusst, dass er die ganze Zeit über kaum etwas gesagt hat. Handelt es sich womöglich um einen Verrückten?
    Am besten bleibt sie ruhig sitzen und wartet auf Hilfe. Der Mann ist ein entsprungener Häftling und muss auf der Flucht Spuren hinterlassen haben. Die Chancen stehen gut, dass demnächst die Polizei auftaucht. Bis dahin zählt nur, dass Anouk und sie am Leben bleiben.
    Lisa legt ihrer Tochter die Hand an die Stirn. Sie ist warm, wärmer als am Morgen. Ein Blick auf die Uhr: Es ist kurz nach vier, also noch nicht Zeit für die nächste Dosis Penicillin. Etwas Ventolin könnte allerdings nicht schaden. Allerdings liegt das Asthmaspray oben.
    Kreuger sitzt wieder auf der Sesselkante und starrt
mit leerem Blick vor sich hin. Die Messerklinge klatscht rhythmisch auf seine Handfläche.
    Ein heftiger Hustenanfall Anouks durchbricht die Stille. Lisa klopft ihr auf den Rücken, bis sie wieder zu Atem kommt.
    Â»Was fehlt ihr?« Zum ersten Mal sagt Kreuger einen normalen Satz, obwohl er nach wie vor grimmig dreinschaut.
    Â»Sie hat asthmatische Bronchitis«, erklärt Lisa.
    Â»Muss sie dagegen nicht etwas nehmen?«
    Â»Sie bekommt dreimal am Tag Penicillin. Das nächste Mal um sechs. Ich würde ihr gern ein wenig Ventolin geben, aber das Spray ist oben.«
    Sekundenlang ist es still, Kreuger starrt sie aus halb zugekniffenen Augen an. »Dann hol das Zeug.«
    Eine Welle von Dankbarkeit erfasst Lisa, und ihre Stimme klingt erleichtert, als sie sich an Anouk wendet: »Ich hol rasch dein Ventolin, gleich bin ich wieder da.«
    Anouks Blick zu Kreuger zeugt nicht gerade von Vertrauen.
    Â»Der Mann tut dir nichts«, versichert ihr Lisa. »Ganz bestimmt nicht. Und ich komme auch gleich wieder.«
    Anouk sieht sie flehentlich an, aber ein neuer Hustenanfall erstickt jeglichen Protest.
    Lisa rennt die Treppe hinauf, in Anouks Zimmer. In ihrem eigenen Schlafzimmer ist ein Telefon, aber sie spürt intuitiv, dass Kreuger sie auf die Probe stellt. Und seinen Zorn an Anouk auslässt, wenn sie zu telefonieren versucht. Wahrscheinlich steht er jetzt unten,
hat den Hörer am Ohr und wartet auf das verräterische Klicken.
    Vom Schlafzimmer aus zu telefonieren, ist also undenkbar, und sie kann sich auch keine Waffe suchen. Hier oben liegt zwar allerhand herum, das sich eignen würde: Scheren, ein Taschenmesser, eine Fußbodenleiste mit Nägeln drin, schwere Ziergegenstände, aber solange Anouk in Kreugers Gewalt ist, kann sie nichts davon nehmen. Was, wenn er sie durchsucht?
    Schnell nimmt Lisa das Asthmaspray von Anouks Nachttisch. Ihre Hand hat durch die Bewegung wieder zu bluten begonnen.
    Im Bad holt eine Binde, Gaze, Watte und eine Tube Wundsalbe aus dem Arzneischränkchen. Als sie sich umdreht, stößt sie gegen Kreuger.
    Sie schreit auf. Obwohl er schmal gebaut ist, füllt er die ganze Tür aus. Das Badezimmer kommt ihr mit einem Mal winzig vor. Langsam geht sie rückwärts, steht jedoch nach wenigen Schritten an der Wand.
    Kreuger betrachtet das Verbandszeug in ihren Händen. »Was hast du da?«
    Â»Ich will meine Hand verbinden. Sie blutet wieder.«
    Mit einer Kopfbewegung fordert er sie zum Mitkommen auf. Lisa gehorcht. Er zeigt auf ihr Schlafzimmer, und nach kurzem Zögern geht sie hinein.
    Â»Setz dich.«
    Er deutet auf das Bett. Mit gemischten Gefühlen setzt Lisa sich ganz vorn auf die Kante. Kreuger lässt sich neben ihr nieder. Zu nah, viel zu nah.
    Er wirft die Socke auf den Boden, trägt etwas Salbe auf die Wunde auf, legt ein Stück sterile Gaze darüber,
dann einen Bausch Watte und nimmt schließlich die Binde zur Hand. Seine Bewegungen sind routiniert, als würde er das häufig machen – schon nach zwei Minuten ist ihre Hand
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