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Reise mit Hindernissen nach England und Schottland

Reise mit Hindernissen nach England und Schottland

Titel: Reise mit Hindernissen nach England und Schottland
Autoren: Jules Verne
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betraten, erzeugte am anderen Ende ein Händler, der mit einem Kornett ausgerüstet war, unter diesem langen Gewölbe ungewöhnliche Klangeffekte zum Ergötzen der Zuhörerschaft; diese vollen Töne waren zunächst nur undeutlich zu vernehmen, aber schon wenig später blieb der vorauseilende Jonathan stehen und packte Jacques unversehens am Arm.
    »Hör doch!« sagte er. »Hör doch!«
    »Was ist denn?«
    »Hörst du denn nicht? Erkennst du es nicht?«
    Von geistlosen Lippen geblasen, schmetterte das entsetzliche Instrument mit aller Kraft
Ah! L’amor, l’amore ond’ardo
aus dem
Trovatore!
    »Sogar im Tunnel!« sagte Jacques.
    »Ich verstehe nicht, wie er das aushält«, antwortete Jonathan schlicht. »Komm Jacques! Nichts wie weg hier.«
    Sie kehrten zur unteren Schachtöffnung zurück, doch unterwegs erblickten sie in einem der Läden noch eine kleine Dampfmaschine, groß wie die Hand und von der Flamme eines Gasbrenners gespeist; sie setzte die Kurbel einer Drehleier in Bewegung. Zum Glück spielte sie nicht, denn Gott weiß, was sie unweigerlich gespielt hätte.
    Mit großem Vergnügen sah Jacques das Tageslicht wieder, und seinem im voraus festgelegten Programm gemäß schlug er den Weg zum Tower von London ein. Sie hatten noch eine gute Strecke vor sich, und da keine Droschken in Sicht waren, mußten sie wohl oder übel zu Fuß gehen. Nach allerlei Umwegen, nachdem sie sich so manches Mal im üppig wuchernden Netz dieser Geschäftsstraßen, die an die Docks grenzen, verirrt hatten, nachdem sie Eisenbahnen erblickt hatten, die in gerader Linie durch Kirchen und Häuser fuhren, nachdem sie Züge beobachtet hatten, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über die Dächer und Giebel hinwegbrausten, erreichten die beiden Freunde schließlich völlig erschöpft den Londoner Tower!
Fünfundvierzigstes Kapitel
Der Londoner Tower, Regent’s Park
    Der Tower of London wurde, wie es heißt, von Wilhelm dem Eroberer erbaut; in ihm zeigt sich der wahre englische Geist mit seinen Traditionen, seiner Achtung vor den alten Gebräuchen, seiner Liebe zu den Dingen aus vergangenen Zeiten. An und für sich hat diese alte Zitadelle nichts besonders Sehenswertes zu bieten, aber zumindest die Wächter sind es wert, genauer betrachtet zu werden: Sie sind nach früherer Sitte gekleidet, tragen ein Wappen auf der Brust und Girlanden auf ihrem Hut. Jonathan war entzückt, diese guten Leute bei der Arbeit zu sehen, die gewiß Zeitgenossen von Richard III. oder Heinrich VIII. sind; und natürlich haben sie die blutigen Ereignisse, von denen sie erzählen, selbst miterlebt.
    Unter der Führung eines dieser Pikbuben trat die Besuchergruppe, zu der auch die beiden Pariser gehörten, in die weitläufigen Innenhöfe der Festung: Der Wächter zeigte im Vorübergehen auf den blutigen Turm, in dem der Mord an Edwards Kindern begangen worden war, den Turm von Beauchamp, jenes Staatsgefängnisses, in dem Jane Grey und Anne Boleyn gelitten haben, und den Turm von Wakefield, in dem Heinrich VII. ermordet wurde. An Mordtaten fehlt es in diesen Gemäuern nicht; sie waren das wichtigste politische Instrument, das die englischen Herrscher zu ihrer Verfügung hatten, und sie machten reichlich von ihm Gebrauch, sowohl im Adel als auch in ihrer eigenen Familie. Man kann wahrhaftig behaupten, daß die englische Geschichte mit Blut geschrieben ist!
    Der Waffensaal, in den die Gruppe wenig später gelangte, ist auf lächerliche Weise eingerichtet; die Rüstungen werden allesamt von Puppen getragen, die Englands Könige darstellen. Körperhaltung, Pose und Gestik sind albern: Die eine hantiert mit einer Lanze, die den Plafond bedroht, eine andere wiederum stemmt einen Morgenstern in die Höhe, der ihrem eigenen Schlachtroß den Kopf zerschmettern wird, und wenn die Streitaxt einer dritten niedergeht, dann hackt sie sich selbst den linken Arm ab! Diese ganze Inszenierung zeugt von schlechtem Geschmack und erinnert eher an die Kuriositäten eines Jahrmarktes als an die archäologischen Schätze eines Museums.
    Im Arsenal der Königin Elisabeth sind zwei Beile auf zwei Richtblöcken zu sehen: jenes, das Anne Boleyn den Kopf abschlug, und jenes, das den Grafen von Essex enthauptete. Jacques fuhr zitternd mit der Hand über diese historischen Schneiden und zählte auf dem Richtblock die Kerben, die von der Politik der Könige zurückgeblieben waren.
    Sobald die Reisenden aus dem Zeughaus getreten waren, verließen sie unverzüglich den Burgbezirk des Tower, ohne
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