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- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond

- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond

Titel: - Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
Autoren: Sarah Blakley-Cartwright , David Leslie Johnson
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die nett und offenherzig waren. Sie konnte nicht anders. Ihre ältere Schwester Lucie war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie sich verbunden fühlte. Lucie und sie waren wie die zwei ineinander verwachsenen Wein— reben in dem Lied, das die älteren Leute im Dorf sangen.
    Lucie war die Einzige.
    Valerie spähte an ihren baumelnden nackten Füßen vorbei und überlegte, warum sie eigentlich hier hochgeklettert
war. Natürlich war es ihr verboten, aber das war nicht der Grund. Und auch nicht das Abenteuer des Kletterns, denn das hatte schon vor einem Jahr seinen Reiz verloren, als sie zum ersten Mal den obersten Ast erreichte und nicht mehr weiterkonnte, weil über ihr nur noch Himmel war.
    Sie kletterte hier herauf, weil sie da unten, im Dorf, nicht frei atmen konnte.Wenn sie nicht herauskam, wurde sie von einer Traurigkeit befallen, die auf ihr lastete wie eine dichte Schneedecke. Hier oben auf ihrem Baum strich die Luft kühl über ihr Gesicht und sie fühlte sich unbesiegbar. Angst hinunterzufallen hatte sie nie. So etwas war in dieser schwerelosen Welt nicht möglich.
    »Valerie!«
    Suzettes Stimme drang durch das Blätterwerk herauf. Sie war wie eine Hand, die sie wieder zur Erde hinabzog.
    Am Tonfall ihrer Mutter merkte sie, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Sie zog die Knie ein, stemmte sich in die Hocke und begann mit dem Abstieg. Wenn sie senkrecht nach unten blickte, konnte sie das steile Dach von Großmutters Haus sehen, das direkt in das Geäst des Baumes gebaut und mit einem dichten Teppich aus Kiefernnadeln bedeckt war. Das Haus war zwischen knorrigen Ästen verkeilt, als wäre es während eines Sturms dort stecken geblieben. Valerie wunderte sich immer wieder, wie es bloß hierher geraten war, aber sie fragte nie nach, denn eine Erklärung hätte den schönen Zauber zerstören können.
    Der Winter nahte, und die Herbstblätter hatten begonnen, ihren Griff zu lockern und sich von den Ästen zu lösen. Manche erzitterten und fielen ab, als Valerie durch den Baum nach unten stieg. Sie hatte den ganzen Nachmittag im Wipfel gehockt und dem Gemurmel der Frauen gelauscht,
das leise von unten zu ihr heraufgeweht war. Ihre Stimmen waren ihr heute gedämpfter, heiserer als sonst vorgekommen, als hätten sie sich Geheimnisse zugeraunt.
    Als sie sich den unteren Ästen näherte, die am Hausdach kratzten, sah sie, wie Großmutter, die Füße unterm Kleid verbogen, auf die Veranda herausgeschwebt kam. Großmutter war die schönste Frau, die Valerie kannte. Sie trug lange Stufenröcke aus Seide, die bei jedem Schritt hin und her wogten. Setzte sie den rechten Fuß vor, schwang der Rock nach links. Sie hatte schöne, zarte Fußknöchel wie die kleine Tänzerin aus Holz in ihrem Schmuckkästchen. Das gefiel Valerie und machte ihr zugleich Angst, denn sie sahen so zerbrechlich aus.
    Valerie selber war ganz und gar nicht zerbrechlich, sie sprang vom untersten Ast und landete mit einem leisen, aber satten Plumps auf der Veranda.
    Sie war auch nicht empfindlich wie die anderen Mädchen mit ihren rosigen Pausbacken. Valeries Wangen waren schmal und blaß. Sie selbst fand sich eigentlich nicht hübsch, so sie sich überhaupt Gedanken über ihr Aussehen machte. Doch niemand, der sie sah, vergaß je wieder das maisblonde Mädchen mit den verstörend grünen Augen, die leuchteten wie von einem Blitz entflammt. Mit ihrem wissenden Blick wirkte sie älter, als sie war.
    »Kommt, Mädchen!«, rief ihre Mutter aus dem Inneren des Hauses, Besorgnis trübte ihre Stimme. » Wir müssen heute Abend früh zurück.« Valerie war unten angelangt, bevor jemand überhaupt merkte, dass sie auf dem Baum gewesen war.
    Durch die offene Tür sah sie, wie Lucie zu ihrer Mutter lief, in den Armen eine Puppe, die sie mit Stoffresten bekleidet
hatte, die Großmutter ihr zu diesem Zweck geschenkt hatte. Valerie wäre gern mehr wie ihre Schwester gewesen.
    Lucies Hände waren weich und rund, fast wie Kissen, und das bewunderte Valerie. Ihre waren knochig und dürr, kratzig von Schwielen und eckig. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass andere sie deshalb nicht liebenswert fanden und nicht anfassen wollten.
    Ihre ältere Schwester war ein besserer Mensch als sie, so viel war gewiss. Lucie war netter, gutmütiger, geduldiger. Sie wäre niemals über das Baumhaus hinausgeklettert, denn ihr war klar, dass vernünftige Leute dort oben nichts verloren hatten.
    »Mädchen! Heute ist Vollmondnacht!«, drang die Stimme ihrer Mutter jetzt zu ihr
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