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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Richard Weisberg
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Verurteilung zu kommen. Später hat das Gehör für die Stimmen der Frauen zu einem neuen Verständnis für häusliche Unterdrückung als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund geführt, d. h. nicht nur zu einer anderen Anwendung, sondern zu einer anderen Gestaltung des Rechts. Die andere Frage, die A Jury of Her Peers anregt, ist für Gerichtsbarkeiten mit Jurys aktueller als für Gerichtsbarkeiten mit Berufsrichtern, zugleich aber von allgemeiner Relevanz: Wer kann, wer soll Richter sein?
    Auch das Interesse von Recht und Literatur an Fragen der Gerechtigkeit hat seinen klassischen Text: Melvilles 1891 vollendete, zunächst verschollene und 1924 veröffentlichte Erzählung Billy Budd . Melville erzählt von einem jungen, schönen Matrosen, der den Dienst auf dem Kriegsschiff, zu dem er gepresst wurde, fröhlich versieht, gegen alle freundlich und bei allen beliebt. Lediglich der Waffenmeister des Schiffs hasst Billy; nachdem er ihn vergebens in kompromittierende Situationen zu drängen versucht hat, beschuldigt er ihn beim Kapitän der Vorbereitung einer Meuterei. Billy, vom Kapitän dem Waffenmeister gegenübergestellt und aufgefordert, sich zu erklären, ist wegen seiner Erregung angesichts der Beschuldigung und wegen seines Stotterns unfähig, sich zu erklären, schlägt stattdessen zu und trifft den Waffenmeister so unglücklich, dass dieser stürzt und stirbt. Der Kapitän bildet aus einigen Offizieren ein Gericht und lässt Billy zum Tode verurteilen und hängen.
    Billy begegnet in der Erzählung als unschuldiger, argloser Jüngling, den auch der Kapitän liebt, der Waffenmeister als missgünstige, verschlagene Kreatur, die der Kapitän durchschaut und verachtet, aber wegen seines Amts ernst nehmen muss, und der Kapitänals pedantischer, aber redlicher Mann im Konflikt zwischen seinem Sinn für Gerechtigkeit und seiner Pflicht, dem Recht zu gehorchen. Mit den widerstrebenden Offizieren, die der Kapitän zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz ermahnt, mit der Erinnerung an vorausgegangene Meutereien auf anderen Schiffen der Kriegsflotte und der Angst vor neuer Meuterei und mit der hohen See, die das Schiff umgibt und als eine eigene Welt um- und einschließt, scheint ein tragischer Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, dem Buchstaben des Gesetzes und dem Geist der Gerechtigkeit, Disziplin und Chaos stattzufinden.
    Richard Weisberg zeigt in seinem Buch auf, dass Billy Budd tatsächlich lange so gelesen wurde. In dieser Lesart regt Billy Budd an, den Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Gesetz und Freiheit und Ordnung zu thematisieren. Aber Weisbergs Buch erschließt noch eine ganz andere Dimension von Melvilles Erzählung.

III.
    Weisberg ist einer der Gründer des Law und Literature Movement und einer seiner wichtigsten Vertreter. Er hat in französischer und vergleichender Literaturwissenschaft promoviert, ehe er Jurist und Juraprofessor wurde. Seine Beschäftigung mit Vichy-Frankreich war Beschäftigung sowohl mit der damaligen Literatur als auch der damaligen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, ehe beides in The Failure of the Word , einem Klassiker des Law und Literature Movement, miteinander verbunden wurde.
    Das Buch spitzt das Interesse an Fragen der Gerechtigkeit und des Verhältnisses zwischen Recht und Moral, Recht und Unrecht, Einzelnem und Gemeinschaft, in dem sich Recht und Literatur treffen, zur Frage nach der Rolle des Juristen, seiner Verantwortung und seiner Gefährdung zu.
    Es sieht in der Entwicklung des modernen Romans von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Niederschlag einer Entwicklung der modernen Gesellschaft, bei der als regulierendes und kontrollierendes Prinzip Legalität an die Stelle von Religiosität tritt. Die Herstellung von Konformität durch Manipulation, die die religiöse Sprache geleistet hatte, leistet stattdessen die juristische Sprache, und wie die Priester mit ihrer argumentativenund narrativen Kunstfertigkeit die natürlichen Wahrnehmungen und Empfindungen des Menschen überwältigten, tun es nun die Juristen. Jedenfalls ist dies die Versuchung, der sie ausgesetzt sind; ihre Fähigkeit zum guten Formulieren in Wort und Schrift macht es ihnen leicht, die Wirklichkeit wortreich zu überformen und zu verformen, und schwer, sie unverstellt anzuerkennen.
    Aber sie wissen, dass es Menschen gibt, die ein unverstellteres Verhältnis zur Wirklichkeit haben als sie und die das Leben wortloser und formloser genießen. Ihnen gilt ihr Ressentiment, sie
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