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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Richard Weisberg
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Berücksichtigung dieses Umstands kam die erste Instanz auch zu dem Ergebnis, dass keine ausreichende Verbindung vorhanden war, um die tatsächliche Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft festzustellen.
    Die Aussage der Angeklagten, sich nur deshalb als Jüdin ausgegeben zu haben, um eine Stelle in einer jüdischen religiösen Einrichtung zur erhalten, wurde nach Auffassung des Reichsgerichts zu Recht nicht berücksichtigt […]. Zwar billigt das Gericht grundsätzlich ein solches Verhalten der Angeklagten nicht, doch hält es dieses für die Feststellung ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse für nicht ausschlaggebend.
    Grundsätzlich lässt die Rechtsprechung des Reichsgerichts dieBerücksichtigung von Motiven nicht zu, die eine Person zu bestimmten, eine äußerliche Verbindung zur jüdischen Gemeinschaft schaffenden Handlungen veranlasst haben. Wenn es sich jedoch um Fälle handelt, in denen die Beziehungen zur hebräischen Religion nur vorgetäuscht wurden, erlaubt das Reichsgericht den Vorinstanzen, diesen Grundsatz nicht anzuwenden, wenn, wie im vorliegenden Fall, feststeht, dass die jüdische Religion für den Betroffenen nur ein Vorwand war, um sich mittels der religiösen Einrichtungen, freilich nicht zu deren Schaden, einen Vorteil zu verschaffen.
    […]
    Diese Analyse der deutschen Rechtsprechung leistet einen interessanten Beitrag zur Untersuchung eines bei französischen Gerichten noch wenig bekannten Themas. Sie zeigt ihnen einen Weg an, auf dem sie nicht Gefahr laufen, die Absichten des Gesetzgebers zu entstellen, und auf dem die Grundsätze gewahrt bleiben, die die Rassengesetzgebung und -rechtsprechung regieren.
    Joseph Haennig
Rechtsanwalt an der Cour d’appel Paris

Nachwort

Bernhard Schlink
Das Bilderbuch des Rechts
I.
    Literatur kann Gegenstand des Rechts werden – im Urheberrecht als geistiges Eigentum, im Strafrecht als Mittel von Verleumdung, Gewaltverherrlichung oder Staatsverunglimpfung, im Verwaltungsrecht als Thema des schulischen Unterrichts oder von Kulturförderung und -veranstaltungen. Andererseits kann Recht wie alles andere zum literarischen Stoff werden; Romane und Erzählungen können von Recht und Gerechtigkeit handeln, Dramen können Rechtskonflikte und Gerichtsverhandlungen inszenieren, und Sinngedichte und -sprüche können Rechtsweisheiten lehren. Schließlich haben Rechtstexte, Texte des Rechts und Texte über das Recht gelegentlich literarische Qualität.
    Auf diese Zusammenhänge zwischen Recht und Literatur ist vielfach hingewiesen worden. [1] Weil wie die Literatur auch das Recht mit Sprache arbeitet, mehr als Medizin oder Wirtschaft oder Architektur, liegen auch literatur- und rechtswissenschaftliche interdisziplinäre Zugriffe auf Themen wie Urteilen und Entscheiden oder Schwören und Fluchen nahe, [2] obwohl in Medizin, Wirtschaft und Architektur nicht weniger entschieden und geflucht wird als in Recht und Literatur. Ziel dieser interdisziplinären Zugriffe ist der Aufweis begriffsgeschichtlicher und aktueller begrifflicher Parallelen, Verbindungen und Überlagerungen. Sie stehen eher am Rand dessen, was heute mit dem Begriffspaar Recht und Literatur verbunden wird. Mit dem Begriffspaar wird heute vor allem die Aufnahme und Fortführung verbunden, die das amerikanische Law and Literature Movement in Deutschland findet.
    Was hat dieses Movement angestoßen, was treibt es voran? Es ist ein amerikanisches Movement und hat amerikanische Wurzeln. Das Critical Legal Studies Movement, ein spätes Kind des Legal Realism, das sich seit den 1970er Jahren gegen das Bemühen um eine methodische, systematische und objektive Erfassung des Rechts wendet und die Beliebigkeit und Subjektivität des Rechts zu entlarven sucht, hat die Grenzen niedergerissen, die der Beschäftigung mit dem Recht traditionell gezogen waren. Jede Beschäftigung mit dem Recht, jedes Interesse am Recht ist legitim.
    Recht und Literatur treffen sich in Amerika zum einen im Interesse daran, ob die juristische von der literarischen Interpretation lernen kann. Politisch besonders relevant und besonders kontrovers ist die Interpretation der Verfassung; bei ihr wollen die einen Richter und Rechtswissenschaftler den Original Intent der Verfassungsväter zum Maßstab machen und die anderen auf freie Weise die Prinzipien zur Geltung bringen, die der Verfassung implizit wie explizit innewohnen. Der Streit zwischen den beiden Positionen lässt sich binnenjuristisch nicht entscheiden – lässt er sich
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