Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Raumstation Erde

Raumstation Erde

Titel: Raumstation Erde
Autoren: Clifford D. Simak
Vom Netzwerk:
sie herangekommen und hatte sich darauf gestürzt. Sie hatte eine Art Keule in der Hand, einen Ast vermutlich, sie hielt ihn hoch über ihrem Kopf, bereit zum Schlag, aber das Wesen hielt sie fest.
    »Schieß«, sagte Ulysses tonlos.
    Enoch hob das Gewehr, aber er hatte Schwierigkeiten mit dem Zielen, denn es wurde immer dunkler. Und die beiden waren so nah beieinander! Sie waren zu nah beieinander.
    »Schieß doch!« brüllte Ulysses.
    »Ich kann nicht«, schluchzte Enoch. »Es ist zu dunkel.«
    »Schieß«, sagte Ulysses hart. »Du mußt es riskieren.«
    Enoch hob wieder die Waffe, Kimme und Korn schienen deutlicher geworden zu sein, und er wußte, daß es nicht so sehr an der Dunkelheit lag, als an dem Fehlschuß in der Welt des schreienden Ballons, der auf Stelzen ging. Hatte er dort verfehlt, konnte es ihm auch hier passieren.
    Das Korn kam auf dem Kopf des rattenartigen Wesens zum Stillstand, dann wich der Kopf ab, kehrte zurück.
    »Schieß!« schrie Ulysses.
    Enoch drückte ab, und oben auf dem Felsen stand das Wesen für einen Augenblick mit halbem Kopf;
    Fleischfetzen flogen für Sekundenbruchteile wie dunkle Insekten vor dem Halblicht des westlichen Himmels dahin.
    Enoch ließ das Gewehr fallen und lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden, krallte die Finger in die dünne, moosige Erde, gequält von dem Gedanken, was ihm hätte passieren können, schwach vor Dankbarkeit, daß es nicht geschehen war, daß die Jahre in dem phantastischen Schießstand endlich Früchte getragen hatten.
    Merkwürdig, dachte er, wie viele sinnlose Dinge unser Schicksal formen. Denn der Schießstand war etwas Sinnloses gewesen, so sinnlos wie ein Billardtisch oder ein Kartenspiel - nur, um dem Aufseher der Station Vergnügen zu machen. Und doch hatten die dort verbrachten Stunden diesem einen Zweck gedient.
    Die Qual löste sich von ihm, und Friede überkam ihn - der Friede der Bäume, des Waldbodens und des Abends. Als beugten sich Himmel, Sterne und Weltraum zu ihm und flüsterten ihm zu, daß er im Grunde eins sei mit ihnen. Für einen Augenblick schien es ihm, als habe er den Mantel einer großen Wahrheit erhascht, und mit dieser Wahrheit kam ein Trost, eine Geborgenheit, wie er sie nie zuvor erlebt hatte.
    »Enoch«, flüsterte Ulysses, »Enoch, mein Bruder.«
    In der Stimme des fremden Wesens schwang ein Schluchzen mit, und nie zuvor hatte er den Menschen Bruder genannt.
    Enoch richtete sich auf, und auf den Felsblöcken war ein sanftes, wunderbares Licht, ein zartes, weiches Licht wie von einer Laterne.
    Das Licht bewegte sich auf sie zu, und er konnte Lucy mit dem Licht gehen sehen.
    Ulysses’ Hand kam aus der Dunkelheit und schloß sich hart um Enochs Arm. »Siehst du?« sagte er.
    »Ja, ich sehe. Was ist.?«
    »Das ist der Talisman«, sagte Ulysses verzückt. »Und sie ist unser neuer Kustos, den wir seit vielen Jahren gesucht haben.«

33
     
     
    Man gewöhnt sich nicht daran, sagte sich Enoch, als sie durch den Wald stapften. Es gab keinen Augenblick, in dem man ihn nicht spürte. Man hätte ihn am liebsten an sich gepreßt und nie mehr losgelassen.
    Es war jenseits aller Beschreibung - die Liebe einer Mutter, der Stolz eines Vaters, die Anbetung eines geliebten Menschen, die Verbundenheit eines Kameraden, all dies und mehr.
    Lucy ging zwischen ihnen und hielt die Tasche mit dem Talisman an ihrer Brust mit beiden Armen fest. Enoch mußte an ein kleines Mädchen denken, das seine Lieblingskatze heim trägt.
    »Seit hundert Jahren hat er nicht mehr so wunderbar geglänzt«, sagte Ulysses. »Ist es nicht herrlich?«
    »Ja«, sagte Enoch. »Es ist herrlich.«
    »Jetzt werden wir wieder eins sein«, sagte Ulysses. »Jetzt können wir wieder fühlen. Wir werden ein Volk sein, statt vieler Völker.«
    »Aber das Wesen.«
    »Eine schlaue Kreatur«, erwiderte Ulysses. »Es wollte Lösegeld dafür haben.« »Der Talisman ist also gestohlen worden.«
    »Wir kennen nicht alle Umstände, aber wir werden sie erfahren.«
    Sie gingen schweigend weiter, und im Osten konnte man durch die Wipfel einen hellen Streifen erkennen. Bald würde der Mond aufgehen.
    »Da ist noch etwas«, sagte Enoch. »Frag ruhig«, erwiderte Ulysses.
    »Wie konnte diese Kreatur ihn tragen und nichts fühlen gar nichts?«
    »Es gibt unter vielen Milliarden nur einen, der - wie sagt ihr dazu? - diese geheimnisvollen Kräfte erkennen kann. Für dich und mich würde der Talisman nichts bedeuten. Bei uns würde er nicht reagieren. Wir könnten ihn eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher