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Rasputins Tochter

Rasputins Tochter

Titel: Rasputins Tochter
Autoren: Robert Alexander
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er sich entlang der Reling auf mich zu bewegte, öffnete er seinen Mund, als ob er mir eine Frage stellte, dann blickte er hinunter auf das offene Buch in seinen Händen. Er konnte das Gedicht nicht auswendig, so wie ich, doch rezitierte er die letzten Zeilen schön, nicht nur wie ein belesener Mann, sondern mit Leidenschaft, wobei seine Stimme sich hob und fiel.
„So auf einem nackten Ast, verdorrt
Durch späte pfeifende Winterkälte,
Ein einzelnes Blatt, das überdauert hat;
Seine Jahreszeit wird noch zittern.“
    Als seine Stimme verklang und durch die Bewegung des Dampferkessels ersetzt wurde, sagte ich: „Von Pushkins frühesten Gedichten ist das mein Lieblingsgedicht.“
    „Meines auch.“ Er beugte seinen Kopf zu mir und sagte. „Man nennt mich Sascha.“
    „Maria.“
    „Woher kommst du?“
    „Sankt Petersburg. Und du?“
    Obwohl er sagte, er sei ein Einheimischer von Nowgorod, reiste Sascha eigentlich von Moskau, wo er die Universität besuchte. Er war unterwegs, einen Freund in Pokrowskoje zu besuchen, und als ich ihm sagte, dass das mein Heimatdorf sei, leuchteten seine Augen auf.
    „Sag“, begann er und zog nachdenklich an seinem Bart, „wenn du aus der Hauptstadt kommst und auf dem Weg nach … nach … also, ich hörte dort unten, dass der berühmte Vater Grigori an Bord ist. Du wärest nicht zufällig -“
    „Ja, ich bin seine Älteste.“ Ich fühlte, wie meine Wangen warm erröteten. „Aber wie alle Gerüchte ist die Geschichte, die du hörtest, nicht ganz wahr. Während meine Schwester und ich an Bord sind, ist es mein Vater nicht. Er ist schon zu Hause.“
    „Oh, das ist mein Verlust, denn es ist immer ein großer Wunsch von mir gewesen, ihn kennenzulernen.“
    Ich war nie begierig, von meiner Familie zu sprechen - tatsächlich ermutigte mich mein Vater nicht dazu - daher blickte ich auf sein Buch und fragte: „Was studierst du an der Universität, Literatur?“
    „Genau“ Nun war Sascha an der Reihe zu erröten, als er seine Zuversicht stärkte und zugab: „Eigentlich … eigentlich bin ich Schriftsteller.“
    „Wirklich?“
    Wie sich herausstellte, waren wir beide angehende Poeten, nur Sascha war eher fortgeschrittener, da er nicht nur zwei Gedichte an der Universität, sondern ebenso eine nationale Poesiezeitschrift herausgegeben hatte. Natürlich war er klug, so viel konnte ich an dem süßen Blinzeln seiner Augen erkennen, wie er seine Hände benutzte, und natürlich an seiner Leidenschaft für das geschriebene Wort.
    „Was liebst du an der Literatur?“, fragte ich.
    „Sie ist so demokratisch. Ich weiß, dass nicht jeder in unserem Land lesen kann - das wird sich ändern - aber jeder kann ein Buch aufheben.“
    „Und was für Schriftsteller haben dir am meisten bedeutet?“
    Unsere Diskussion ging los wie eine rasende Troika, überraschend schnell und ungestüm. Von unseren großen Schriftstellern des letzten Jahrhunderts schätzten wir beide Puschkin am meisten für die Art, wie er nicht zu der oberen Klasse, sondern zu uns, dem gemeinen Volk, sprach. Sascha genoss Lemontow für seinen Nachdruck auf Gefühl, während ich Magie in Gogols seltsamer Mischung der Sprache fand. Was Dostojewski jedoch anging, wir beide fanden seine Geschichten zu verdrießlich und zu sehr mit Sorge gefüllt.
    „Hast du von Tswetajewa gehört? Sie ist ziemlich jung, aber ich mag wirklich ihre Werke - sie hat solche Leidenschaft und Intensität“, sagte ich. „Außerdem gefällt mir, wie sie sich auf Märchen und Volksmusik bezieht. Sie wird sehr berühmt, denke ich.“
    „Vielleicht. Was denkst du über Anna Achmatowa? Du weißt, was sie sagte, nicht wahr? ‚Ich bin die Erste, die Frauen lehrt, wie man spricht.‘“
    Die Konversation ging immer weiter, unsere Worte überschlugen sich und ich verlor völlig das Zeitgefühl. Ich hatte nie über diese Dinge mit einem Jungen sprechen können, geschweige denn mit einem Mann, und dass Sascha so interessant sein konnte, geschweige denn so an das, was ich zu sagen hatte, interessiert war, war beinahe das Aufregendste, was ich je erfahren hatte. Wie konnte er so viel wissen, wie konnte er voraussehen, was ich sagen würde, wie konnte er meine Gedanken nehmen und sie so leicht erläutern?
    Plötzlich, wie das Krachen eines Donners, schrie eine großmütterliche Stimme meinen vollen Namen: „Matrjona Grigorewna Rasputina!“
    Ich erschrak wie ein gemeiner Dieb, sogar noch mehr, als ich bemerkte, dass Sascha meine Hand hielt. Als ich
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