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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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musste morgen, mit einem kleinen Begleitbrief, auf die Post. Wie fast immer würde Fabricius ihm zurückschreiben, um welche Spezies es sich hier, nach der Linne’schen Klassifikation, handelte. Wie dieser Mann sich so viel Wissen angeeignet hatte, war Grau ein Rätsel. Professor für Entomologie war er, aber auch für Ökonomie, dazu ein Spezialist für die Verwaltungswissenschaft. Er schrieb in einem gelehrten und nahezu makellosen Deutsch, dabei war seine Muttersprache das Dänische. Noch immer waren sich die beiden Forscher, die seit Jahren miteinander korrespondierten, nicht persönlich begegnet. Es war ein langgehegter Plan von Grau, eines Tages Fabricius’ Einladung zu folgen und ins Königreich Dänemark, nach Kiel, zu reisen. Allerdings zweifelte er daran, ob ihn der Oberamtmann Schäffer auch nur für wenige Tage von seinen Pflichten entbinden würde.
    Nun musste Grau doch die Lampe anzünden. Er schloss, der Mücken wegen, das Fenster. Die neun Stundenschläge von der nahen Kirche ließen die Scheiben erzittern. Es war eine schöne Ordnung auf dem Ausspannbrett; die meisten der eingeleimten Korkstöpsel waren schon mit aufgespießten Fundstücken besetzt. Von Kind aufhatte es ihn bei Angstzuständen und im Zorn beruhigt, eine überschaubare Ordnung herzustellen.
    Später, im Bett, sah er auf einmal wieder die Erhängten vor sich, dazu diese todesfrohe Menge. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Plötzlich beschäftigte ihn erneut, was aus Dieterle werden sollte. Wäre er noch nicht acht Jahre alt gewesen, hätte man ihn, als Kind eines Hingerichteten, nach einem neuen herzoglichen Erlass zu einer Pflegefamilie gegeben. Er war aber schon zwölf, wenn auch klein und mager; und so würde man ihn morgen ins Waisenhaus nach Ludwigsburg bringen. Auch deshalb wollte der Schlaf nicht kommen. Grau hätte zur Witwe Schlosser, zu Caroline, hinübergehen können wie in der vorigen Nacht, als das Elend ihn übermannte. Aber das durfte nicht wieder passieren. Während sechs Jahren hatte er dafür gesorgt, dass die Zimmerwirtin ihm fremd blieb; eine einzige Umarmung aus innerer Not befreite ihn nicht von dem Gewicht, das schon so lange auf ihm lastete.
     
    Sulz am Neckar, Frühling und Sommer 17 86
     
    Unermüdlich war der Oberamtmann Jacob Georg Schäffer, wenn es darum ging, seine Liste von Jaunern, Zigeunern, Mördern, Tag- und Nachtdieben, die seit 1784 gedruckt vorlag, zu vervollständigen. Sie umfasste nicht weniger als 666 Personen, die neun auskunftswillige Häftlinge, darunter der Schweizer Viktor und der Konstanzer Hans, genannt und beschrieben hatten, dazu kamen 96 Namen von Hehlern und Unterschlupfgebern samt den einschlägigen, teils abgelegenen Orten und Häusern. An die 90 der Gesuchten waren seit der Drucklegung im ganzen Schwäbischen Kreis und in der Schweiz gefasst und abgeurteilt worden.
    Es brannte, es loderte in Schäffer. Das unselige Jaunerwesen gleiche einer Hydra, der dauernd neue Köpfe nachwüchsen, verkündete er bei jeder Gelegenheit. Was bleibe einem anderes übrig, als stets von neuem so viele Köpfe wie möglich abzuschlagen? Bereits fasste er eine erweiterte Neuauflage der Liste ins Auge, die man dann, so predigte er allen, die es hören wollten, noch weiter verbreiten müsste, bis ins Osterreichische hinein, bis ins Welschland.
    Aufs äußerste entsetzt und erzürnt hatte den Oberamtmann die Ermordung des herzoglichen Grenadiers Christoph Pfister, genannt Toni, durch die Hannikelbande, die bereits in der ersten Liste verzeichnet war. Es handelte sich um einen überaus grausamen Rache- und Ehrenmord an einem abtrünnigen Zigeuner und Porzellanhändler, der im Militär, wie Schäffer es ausdrückte, ein ehrlicheres Leben gesucht hatte. Tonis Vergehen war gewesen, dass er Mantua, die Beischläferin Wenzels, des Bruders von Hannikel, entführt und geheiratet hatte. Das galt unter Zigeunern als schlimmster Treuebruch. Die Sippe hatte Toni eine Falle gestellt. Eine andere, jüngere Schöne hatte den Lockvogel gespielt, die Männer hatten ihm aufgelauert, die Nase abgeschnitten, ein Bein abgeschlagen, die Wunden mit Jauche übergossen. Der Schwerverletzte starb auf dem Weg nach Reutlingen, wohin man ihn auf einem Karren bringen wollte; er hatte noch Kraft genug besessen, die Namen der Mörder zu flüstern: Wenzel, der Gehörnte, und Hannikel, das Oberhaupt der Sippe, seien es gewesen.
    Als die Nachricht von diesem Sühnemord in Sulz eintraf, hatte Schäffer mit dem Brief vor Graus Nase
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