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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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nicht gefunden. Immer stärker schien sich mit jeder solchen nutzlosen Auskunft die innerliche Feder zu spannen, die Schäffer antrieb. Wann er überhaupt zum Schlafen kam, war Grau schleierhaft, und was für ein Familienleben er führte, noch mehr. Bisweilen zeigte sich Schäffers Frau, eine schmächtige Person mit früh verhärmten Zügen, im Oberamt, ein stummes kleines Kind an der einen Hand, in der anderen den gedeckten Korb, der das Essen für Mittag und Abend enthielt, meist etwas Gesottenes, das noch warm war und vom Amtszimmer, in dem Schäffer es verzehrte, in die Schreibstube hinüberduftete. Wenn ihr Mann sie ansprach, zuckte die Frau zusammen, selbst wenn der Ton freundlich war, und sie antwortete gedämpft, beinahe unhörbar, als müssten solche Zwiegespräche geheim gehalten werden. Sie war die Tochter des früheren Oberamtmanns, und man sagte hinter vorgehaltener Hand, Schäffer habe sie nur geheiratet, um das Amt des Schwiegervaters durch dessen Fürsprache zu ergattern. Jedenfalls sprach Schäffer nie über seine Familie, wie er sich auch bei Grau und andern Untergebenen höchstens im Krankheitsfall nach Persönlichem erkundigte. Grau wäre selbst in Verlegenheit geraten, hätte er seine Lebensumstände beschreiben müssen. Anders als der Vorgesetzte begnügte er sich über Mittag mit Brot, etwas Schmalz und verdünntem Apfelwein, den ihm seine Zimmerwirtin mitgab, und abends, wenn er im Amt zu bleiben hatte, aß er oft gar nichts. Seit dem Amtsantritt Schäffers vor nunmehr sechs Jahren stand Grau in dessen Diensten; er war vom Hilfsschreiber zum Aktuar aufgerückt, und das hatte er seinem Fleiß und seiner Anpassungsfähigkeit zu verdanken, die andere wohl, das wusste er, als Duckmäusertum bezeichnet hätten. Seine Pflichten erledigte er mit gleichsam mechanischem Geschick, das genügte. Was übriggeblieben war von seiner Lebhaftigkeit, richtete sich darauf, in freien Stunden die Welt der Insekten zu erforschen, dieses kleine, aber unendlich reiche Universum. Es gab darin, neben den Tausenden der beschriebenen, noch immer neue und bisher unbekannte Arten zu entdecken, denen in der weitverzweigten Linne’schen Ordnung der richtige Platz zugewiesen werden musste. Grau erinnerte sich nur noch verschwommen an das Erwachen dieses Interesses. Ging es in die Kindheit zurück, zu den Tagen, wo er mit Stecken in Ameisenhaufen herumgestochert oder schändlicherweise Käfern die Beine ausgerissen hatte? Oder hing es doch mit den eigenen Kindern zusammen, denen er erklärt hatte, wer die Krabbelwesen waren, vor denen sie sich fürchteten? Eines Tages hatte er nach den richtigen Namen zu suchen begonnen, er hatte, wie es seiner gründlichen Art entsprach, in Zedlers Enzyklopädie nachgeforscht, die zum Bestand des Oberamts gehörte, er war auf Linnes Systema naturae gestoßen, er hatte in einer naturkundlichen Zeitschrift einen Artikel von Johann Christian Fabricius über Wespen gelesen und sich getraut, dem Verfasser eigene Beobachtungen zu unterbreiten. Fabricius, der nur wenig älter war als Grau, hatte zurückgeschrieben. Seither, besonders aber seit dem Verlust der Familie, war dieser Briefwechsel, der so viele Türen in unbekanntes Gelände aufstieß, für Grau ein Licht-, ja der einzige Glanzpunkt in seinem Leben.
    Nun aber, in den Wochen nach dem Mord am Grenadier Pfister, blieb Grau gar keine Zeit, sich seinen Forschungen zu widmen. Der Sommer kam ins Land, und Grau, der sich fast nur noch in Innenräumen aufhielt, merkte kaum, wie warm die Tage wurden, wie rasch in diesem Jahr der Weizen wuchs, welche Insekten schwärmten. Hätte ihn nicht die Witwe Schlosser ermahnt, wäre er im immer selben verschwitzten und übelriechenden Hemd ins Oberamt gegangen. Dass die Rosen schon zum zweiten Mal blühten, entging ihm, ebenso wie die Blattlausplage, über die sich seine Zimmerwirtin beklagte.
     
    An einem schwülen Augusttag bekam Schäffer einen Brief aus Chur, der ihn beinahe wieder außer sich geraten ließ, nun aber nicht vor Zorn, sondern vor übergroßer Freude. Wie damals, im April, als Tonis Ermordung gemeldet wurde, lief er vor Graus Pult hin und her, nein, er hüpfte auf und ab in einer Art ungelenken Tanzes: »Sie haben sie gefasst, hören Sie, Grau, sie sind ins Netz gegangen!« Schäffers Wangen hatten sich dunkelrot gefärbt, eine Ader auf der Stirn war angeschwollen. »Wir werden sie holen, Grau, was kümmert uns die lange Reise! Wir werden sie holen und in Sulz aburteilen! Keiner der
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