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Rächende Geister

Rächende Geister

Titel: Rächende Geister
Autoren: Agatha Christie
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wandte und über seine Schulter spähte. Er drehte sich um und sah Henet hinter sich stehen.
    »Imhotep ist also ein schwacher Mann?«, sagte Henet mit ihrer weichen, klagenden Stimme. »Er wird wohl nicht sehr erfreut sein, wenn er hört, wie du von ihm sprichst.«
    Ipy ließ ein schnelles, verlegenes Lachen hören.
    »Aber du wirst es ihm nicht sagen, Henet. Versprich es mir, Henet… liebe Henet…«
    Henet glitt zu Esa.
    »Natürlich möchte ich kein Unheil anrichten. Ich bin euch allen zugetan. Ich verrate nie etwas, außer wenn ich es für meine Pflicht halte…«
    »Ich habe Großmutter geneckt, weiter nichts«, unterbrach Ipy sie. »Das werde ich auch meinem Vater sagen. Er wird wissen, dass ich die Worte nicht im Ernst gesprochen haben kann.«
    Ipy nickte Henet kurz zu und verließ das Zimmer.
    Henet blickte ihm nach und sagte zu Esa: »Ein schöner Knabe, ein schöner, gut gewachsener Knabe. Und wie tapfere Rede er führt!«
    »Er führt gefährliche Rede«, gab Esa scharf zurück. »Mir gefallen die Gedanken nicht, die er in seinem Kopf hat. Mein Sohn ist zu nachsichtig mit ihm.«
    »Wer wäre das nicht? Er ist ein so schöner, unwiderstehlicher Jüngling.«
    Esa schwieg eine Weile, dann sage sie leise: »Henet, ich mache mir Sorgen.«
    »Du, Esa? Warum? Nun, bald ist der Herr wieder da, und dann wird alles gut sein.«
    Esa seufzte.
    »Glaubst du? Ich bin mir da nicht so sicher.«

3
    Dritter Monat der Überschwemmung – 14. Tag
     
    Ü berall herrschte lebhaftes Treiben, es wurden Vorbereitungen getroffen. Unzählige Brote waren in der Küche gebacken worden, jetzt wurden Enten gebraten, und es roch würzig. Frauen riefen und erteilten Befehle; Diener liefen hin und her.
    Allenthalben hörte man: »Der Herr kommt… der Herr kommt!«
    Renisenb, die beim Winden der Mohn- und Lotosgirlanden mithalf, war voller Wiedersehensfreude. Ihr Vater kehrte heim! In den letzten Wochen hatte sie sich unmerklich ihrem alten Leben wieder angepasst. Das Gefühl der Unsicherheit und Fremdheit, das, wie sie glaubte, Horis Worte in ihr geweckt hatten, war verschwunden. Wie einst ging sie nun im Wirbel der Vorbereitungen für Imhoteps Rückkehr auf. Es hieß, er würde noch vor Einbruch der Nacht eintreffen. Einer der Diener war am Flussufer aufgestellt worden, um die Ankunft des Herrn gleich zu melden; plötzlich ließ seine laute, klare Stimme den vereinbarten Ruf hören.
    Renisenb legte die Blumen aus der Hand und eilte mit den anderen hinaus. Yahmose und Sobek befanden sich schon am Anlegeplatz, inmitten von Dorfbewohnern, Fischern und Landarbeitern, die alle aufgeregt riefen und mit dem Finger wiesen.
    Ja, da war das Boot mit dem großen Segel, das der Nordwind blähte. Dicht dahinter kam das Küchenboot, vollbesetzt mit Männern und Frauen. Und dann erkannte Renisenb ihren Vater, der eine Lotosblüte in der Hand hielt; neben ihm saß eine Gestalt.
    Die Jubelrufe am Ufer verstärkten sich, Imhotep winkte leutselig, die Bootsleute sputeten sich, das Boot zum Anlegen bereitzumachen. »Willkommen, Herr!«, erschallte es ringsum, und kurz darauf kam Imhotep an Land, um seine Familie zu begrüßen und für den Empfang zu danken.
    Renisenb, angesteckt von der allgemeinen Erregung, drängte nach vorn.
    Imhotep nahm eine würdige Haltung an, und plötzlich dachte Renisenb ernüchtert: Aber er ist ja ein kleiner Mann. Ich meinte, er sei viel größer.
    Sie empfand beinahe Bestürzung. War ihr Vater zusammengeschrumpft? Oder täuschte sie die Erinnerung? Wenn sie in all den Jahren an ihn dachte, hatte sie stets eine eindrucksvolle Persönlichkeit vor sich gesehen, einen Herrscher, der befahl und mahnte. Aber dieser kleine, untersetzte, ältliche Mann, der von seiner eigenen Bedeutung völlig überzeugt schien und dabei doch eigentlich gar nicht eindrucksvoll wirkte… Wie war es möglich, dass ihr solch unbotmäßige Gedanken kamen?
    Nachdem Imhotep die zeremonielle Begrüßung beendet hatte, ging er zu persönlichen Worten über. Er umarmte seine Söhne.
    »O mein guter Yahmose, ich grüße dich. Du warst fleißig während meiner Abwesenheit, dessen bin ich sicher. Und Sobek, mein schöner Sohn, du bist immer noch fröhlichen Herzens, wie ich sehe. Und hier ist Ipy, mein viel geliebter Ipy… lass dich anschauen… Du bist gewachsen, wirst allmählich ein Mann. Wie erfreut es mein Herz, dich wieder in den Armen zu halten! Und Renisenb, meine liebe Tochter… wieder daheim. Satipy, Kait, meine nicht weniger geliebten Töchter…
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