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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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verlangen können, sagte aber stets freundlich ab. Samson war froh, dass er nicht davon leben musste, diesen und zwei weitere Vorträge (»Al-Qaida & Co.: Ideologie, Weltbild, Strategie« beziehungsweise »Zwischen Militanz und Theologie: Dschihad-Theorie im Wandel der Zeit«) immer wieder zu aktualisieren und zu halten. Ganz darauf verzichten konnte er allerdings auch nicht.
    Heute war es wieder einmal so weit: Ein Berliner Juristenverband hatte ihn eingeladen, es gab 500 Euro dafür. Weil Samson sich irgendwie in der Pflicht fühlte, hatte er in den letzten Tagen eigens noch einige Exkurse in den Vortrag eingearbeitet, die Juristen ansprechen würden. Über die neuen und neuesten und wahrscheinlich nächsten Antiterrorgesetze etwa – und warum sie vermutlich nicht viel bringen würden, seiner unmaßgeblichen Einschätzung nach. Die Notizen waren in Ordnung, befand er nach dem Durchsehen, er kannte den Vortrag und die mit moderat dramatischen Bildern unterlegte PowerPoint-Präsentation gut genug, um auch die neuen Passagen frei sprechend erläutern zu können.
    Als er den Kaffee ausgetrunken und bezahlt hatte, steuerte Samson den U-Bahnhof Samariterstraße an und nahm die U   5 zum Alexanderplatz. Unterirdisch stieg er in die U   2 um, auf der Museumsinsel stieg er wieder aus, überrascht, wie wenig von dem sanften Morgen nach diesen zwanzig Minuten noch übrig war, denn mittlerweile war die Stadt hell erleuchtet, es würde ein heißer Tag werden. Das schmale, vierstöckige Gebäude, in dem er reden sollte, fand Samson nicht gleich, weil die Hausnummern in dieser Straße offenbar willkürlich verteilt worden waren. Schließlich stand er aber davor, bereit, die Klingel zu drücken, und darauf eingestellt, in den dreißig Minuten, die es noch dauern würde, bis er sprechen sollte, mit einem langweiligen Funktionär Smalltalk zu betreiben. In diesem Moment hörte er, wie jemand hinter ihm seinen Namen rief: »Samuel! Ich bin extra früher gekommen!«
    Im ersten Moment erkannte Samson den Mann in dem dunkelblauen Anzug nicht. Er fragte sich bloß, wieso er seinen richtigen Namen kannte. Samson registrierte systematisch und ohne nachzudenken ein schreckliches rosafarbenes Hemd, eine blau-grüne gestreifte Krawatte, klassisches Muster, an den Füßen gute braune Schuhe. Die dunkelblonden Haare des Mannes waren kurz geschnitten, aber sie kräuselten sich trotzdem, in ungebändigtem Zustand würden sie vermutlich einen verwegenen Eindruck machen. Erst als der Mann einen Schritt auf ihn zumachte, und zwar seltsam ungelenk, so als könne sein rechtes Bein wesentlich weniger Gewicht tragen als das linke, wurde Samson schlagartig klar, dass er es mit einem Bekannten, ja, verdammt, einem alten Freund zu tun hatte, den er zwar ein Dutzend Jahre oder so nicht mehr gesehen hatte, wie man sich eben so aus den Augen verliert, dachte Samson noch, mit dem er aber genug erlebt hatte, damals , in Münster, dass er, dass Stefan also, jederzeit einen Anspruch haben würde, ihn anzusprechen, egal wo und egal wie, und wieder in sein Leben einzutreten.
    »Stefan! Wow, ich, das … du hier?«
    »Na klar!« Stefan lachte jetzt, sehr herzlich. Er reichte Samson die rechte Hand, und als Samson sie ergriff, da durchfluteten ihn gleich noch mehr Erinnerungen. Diese seltsame, etwas verkrüppelte Hand, ein bisschen zu schmal und ein wenig zu hart. Die Folge einer frühen Kinderlähmung, genau wie der unbalancierte Gang.
    »Was machst du denn hier?«
    »Na ja, ich lebe seit ein paar Jahren in Berlin. Ich bin Anwalt. Und als ich die Ankündigung sah, habe ich beschlossen zu kommen. Ist doch klar! Ich meine, ich lese deine Sachen natürlich. Aber ich wollte dich wiedersehen, ist ja immer noch was anderes.«
    »Du liest meine Sachen?«
    »Klar, derkleinejihad.com , ist zwar nicht meine Startseite, aber ich schaue schon jeden Tag drauf.«
    »Das ist echt verrückt, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Also außer natürlich: schön, dich zu sehen!«
    »Ja, finde ich auch. Hör mal, Samuel, ich bin nicht nur wegen des Vortrages hier, ich sag’s dir lieber gleich. Hast du noch Zeit für einen Kaffee? Dann erkläre ich es dir schnell, weil ich nach dem Vortrag gleich ins Gericht muss.«
    »Klar.«
    Einmal um die Ecke, Stefan wusste das, befand sich ein Café.Eines von der Sorte, wie sie in Mitte seit ein paar Jahren um sich griffen: mit ökologischem Espresso, Guaven-Eistee aus Brasilien zu 4,50 Euro und riesigen, windschiefen Chocolate Chip
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