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Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom
Autoren: Die Unperfekten
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sind nicht seine starke Seite. »Man hat mich gewarnt, dass du bellst,
aber von deinen Tischmanieren war nie die Rede.«
    Danach
brechen die beiden besten Freunde zu einer weiteren Expedition ins verdunkelte
obere Stockwerk auf. Oliver schleicht durch die Zimmer und zieht die Planen von
den Gemälden: Modiglianis Porträt einer Zigeunerin, Legers grüne Flaschen und
schwarze Bowler-Hüte, Chagalls blaue Hühner, die über den Mond springen, eine
englische Landschaft, wie Pissarro sie gesehen hat.
    Vor dem
Turner bleibt er stehen: das auseinanderbrechende Schiff und die Gischt,
Turners Art, Wasser zu malen, diese schwappenden Massen. Er könnte es stundenlang
bestaunen - dabei ist Turner nicht einmal unbedingt sein Ding. Was ist
eigentlich sein Ding? In Yale saß er an einer Dissertation (abgebrochen, als
Boyd krank geworden war) über das >Wrack im Mondschein: Caspar David
Friedrich und die deutsche Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts<.
Aber sich nach »seinem Ding« zu fragen, wenn es um Kunst geht, ist eigentlich
anmaßend.
    Er
bewundert den Turner, seine Augen flitzen über die Leinwand, von einem
Ausschnitt zum anderen, in ungeduldiger Vorfreude auf das nächste Detail,
verzückt vom schieren Hinsehen. »Schönheit«, erklärt er Schopenhauer, »ist das
Einzige, was mich interessiert.« Nur die Ertrinkenden im Vordergrund empfindet
er als Enttäuschung: visuelles Getöse in einem ansonsten makellosen Panorama.
Das hat Turner vermasselt, und zwar nicht, weil ihm seine menschlichen
Gestalten einfach missraten sind, sondern weil die menschliche Gestalt an sich
niemals schön geraten kann. Das menschliche Gesicht mit seinem ewigen Schwanken
zwischen Lachen und Brutalität ist das Gegenteil von Schönheit. »Wie können
Leute«, fragt er, »sich zueinander hingezogen fühlen?«
    Ihm zwickt
das Ohr vom andauernden Geklingel unten. Es ist nach Mitternacht. »Können die
mich nicht mal in Ruhe lassen?« Aus dem Anrufbeantworter nölt diesmal sein
älterer Bruder Vaughn, er ruft aus Atlanta an. Vermutlich will er wissen, ob
Oliver endlich eine italienische Freundin hat. Die Familie furchtet, dass er
schwul ist. Sie mögen keine Schwulen. Kommunisten auch nicht. Und
Kunsthistoriker? Dasselbe in Grün. Ist er aber nicht. Was? Kunsthistoriker. Er
ist Kunst-Anbeter. Einer, der Schönheit schätzt. Nur eben Gesichter nicht. »Mr
Deveen hätte dir auch gefallen«, erzählt er Schopenhauer. »Aber ich hätte
Angst gehabt, euch zwei zusammenzubringen - wenn ihr nun nicht miteinander
klargekommen wärt? Aber ich glaube, das wärt ihr. Ich war ja Mr Deveen
zugeteilt worden, ich habe ihn mir nicht selbst ausgesucht. Ich hatte Glück.
Es gab in meiner Schule nämlich so ein Projekt zur Rentnerbetreuung. Jeder
musste praktisch einen adoptieren.« Im Gegensatz zu seinen drei Geschwistern
war Oliver nach England in ein Internat geschickt worden, sein Vater wollte so
einen lästigen kleinen Jungen nicht im Haus herumscharwenzeln haben. »Jeden
Sonnabend bin ich zu Mr Deveen gefahren«, erzählt er weiter. »Habe ihm Tee
gekocht, den Haushalt gemacht, eingekauft, in seinem Fall waren das Zigaretten
und irischer Whiskey - wie hieß noch die Marke? Und der N ew S tatesman . Das
kannst du nicht wissen, Schop - das ist ein Magazin für Linke und
Kunsthistoriker. Und für Schauspieler, nehme ich an, denn das war Mr Deveen.
Als er noch bei besserer Gesundheit war, hat er praktisch in Galerien gelebt.
Er hatte die unglaublichsten Kataloge. Ich kann mit Fug und Recht sagen, Schop,
dass Mr Deveen mich in die Kunst eingeführt hat. So ein gebildeter Mann! Er
konnte über absolut jede Epoche erzählen, und so fesselnd. Von zeitgenössischer
Kunst hielt er allerdings gar nichts - er hatte einen Tick, was Pollock anging
und alle, die nach ihm kamen. Ich habe nach irgendeinem Maler gefragt, und er
hatte sofort eine Ausstellung parat. Zum Beispiel: >Mister Deveen, was
halten Sie von Paul Klee?< Und er: >Sammlung Sir Edward und Lady Hulton
in der Täte Gallery, 1957, oberstes Regal.< Dann holte ich
den Katalog herunter, und er blätterte darin herum und erklärte alles und
schlürfte dazu seinen irischen Whiskey mit der Milch, die ich auf dem Herd warm
halten musste. (Milch warm machen ist schwieriger, als du denkst, Schop - die
brennt ganz schnell an in dem blöden Topf.) Diesen Geruch werde ich mein Lebtag
nicht vergessen. Und immer aus demselben Becher mit dem angeschlagenen Rand. Er
pflegte immer zu sagen: >Machen Sie mir den ja nicht kaputt, ich
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