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Rabenvieh (German Edition)

Rabenvieh (German Edition)

Titel: Rabenvieh (German Edition)
Autoren: Marie Anhofer
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Panik verschlungen zu werden.

    Ich verdamme den viel zitierten Satz: »Die Zeit heilt alle Wunden.« Denn ich bin der Meinung, dass keinesfalls die Zeit alle Wunden heilt, vielmehr ist es das, dass man sich an den Schmerz gewöhnt. Wenn genug Zeit verstrichen ist, wird der Schmerz als nicht mehr unerträglich empfunden – geheilt ist man deshalb aber lange noch nicht. Denn Wunden, egal wie groß oder klein, hinterlassen Narben. Narben, die durch Erinnerungen, wie eine Melodie, einen Geruch, einen Gedanken, eine Geschichte, ein Bild oder ein Gefühl jederzeit wieder drohen, aufzubrechen.

    Wir waren fünf Kinder. Ich war die Jüngste und ein erst wenige Monate alter Säugling, als wir von unseren leiblichen Eltern getrennt wurden und man uns in einem Heim unterbrachte. Mit zwei Jahren wurde ich dann gemeinsam mit einer meiner Schwestern in die Nähe von Graz gebracht und jede von uns in einer Pflegefamilie untergebracht. Wohin meine anderen Geschwister gebracht wurden, erfuhr ich nie. Ich kam, Katarina ging. Katarina, ein Mädchen, das bereits vor mir bei dieser Pflegefamilie untergebracht war. Als Begründung warum Katarina gehen musste, bekam ich stets nur lapidare Antworten, mit denen ich nie etwas anfangen konnte. Erst viele Jahre später erfuhr ich von außen, dass Katarina nicht von meinen Pflegeeltern weggegeben, sondern vom Jugendamt aufgrund diverser Probleme wieder abgeholt wurde. Welche Art Probleme das waren, erfuhr ich allerdings nicht. Meine Pflegeeltern verstanden es gut, nach außen hin jedem die heile Welt und die liebe Familie vorzuspielen und sie verstanden es noch besser, anderen vorzuspielen, welch fürsorgliche Menschen sie doch waren, indem sie einem Heimkind ein neues zu Hause gaben. Dass sie in Wirklichkeit einem Mädchen einen niemals endeten Albtraum bescherten, damit rechneten die wenigstens und diejenigen, die es bemerkten, schwiegen.

Der Ort des Grauens

    Meine Pflegeeltern, allen voran meine Pflegemutter war eine Frau Ende zwanzig und mein Pflegevater Ende dreißig, als ich zu ihnen kam. Sie hatten zwei leibliche Töchter, Friederike und Sybille. Friederike ging bereits in die Schule und Sybille in den Kindergarten. Mein Pflegevater ernährte die Familie mit seinem Gehalt als Industriemechaniker, während meine Pflegemutter ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter nachkam. Das Einfamilienhaus, das sie bauten, war noch nicht zur Gänze fertiggestellt.
    Mir wurde schnell klar (gemacht), dass ich des Geldes wegen genommen wurde und nicht denselben Status wie Friederike und Sybille hatte. Dass für mich andere Regeln galten und mir wurde noch schneller klar gemacht, dass ich keinen Anspruch auf Liebe hatte und dass ich in dieser Familie ein Nichts war. Mir wurde daher schnell bewusst, dass ich mich ausschließlich auf mich selbst verlassen musste, wenn ich Leben und in weiterer Folge überleben wollte. Anfangs wurde ich nach meinen »Verbrechen« in die Ecke der Toilette verbannt. Aber als meine Pflegeeltern zu der Auffassung kamen, dass die stundenlangen »Eckenbehandlungen« keine Früchte tragen würden, ließen sie sich immer wieder neue Methoden einfallen, um mich für meine Vergehen zu bestrafen. Ihre anfänglichen Disziplinierungsmaßnahmen arteten bald in brutalste Bestrafungsaktionen aus. Je älter ich wurde, umso massiver wurden die Misshandlungen. Sehr schnell lernte ich, dass es nichts brachte, meine Schläge einfach so hinzunehmen. Durch leidvolle Erfahrungen hatte ich gelernt, dass sie darin eine Trotzhandlung sahen, was bedeutete, dass ich noch mehr Schläge bekam oder, was noch schlimmer war, kein Essen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, raffte mich jedes Mal, wenn ich von der Prügelei am Boden lag, wieder auf. Reumütig stand ich vor ihnen, und während sie mich anschrien, nickte ich nur mit dem Kopf, was so viel hieß, dass ich ihnen mit alldem, was sie mir an den Kopf warfen, recht gab. »Prügelt auf mich ein, aber lasst mich nicht hungern«, das war einer meiner Gedanken in solchen Momenten. Aber mit den Jahren scheiterte ich auch an meinem reumütigen Verhalten. Von nun an ließ ich während der Misshandlungen meinen Schmerz und folglich auch meinen Tränen freien Lauf. Ein weiterer Fehler meinerseits. Denn begann ich zu weinen, wurde ich für mein Weinen umso länger beschimpft, gedemütigt und geschlagen. Welche Reaktion ich auf ihre Foltermethoden auch immer zeigte, es war aus der Sicht meiner Pflegeeltern unangebracht.
    Während Friederike und Sybille den
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