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Purpurschatten

Purpurschatten

Titel: Purpurschatten
Autoren: Philipp Vandenberg
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Generalkonsul.
    »Welches Datum haben wir heute?« fragte Brodka tonlos.
    »Den Sechsundzwanzigsten«, antwortete Florentina.
    Brodka nickte. Dann trat er unter dem Sonnenschirm hervor und ging zum Strand, wo die Brandung sich im Sand verlief. Brodka trug Jeans und Schuhe aus Segeltuch, aber das kümmerte ihn nicht. Er watete ins seichte Meer hinaus, bis das warme Wasser ihm an die Hüfte reichte. Mit verschränkten Armen blickte er zum Horizont.
    Es war kein Schmerz, den Brodka verspürte, nicht einmal Trauer. In diesem Augenblick empfand er lediglich tiefe Ratlosigkeit; er wußte nicht, wie seine Gefühle dieser Situation begegnen würden. Zwischen Claire und Alexander Brodka hatte nie ein inniges Mutter-Sohn-Verhältnis geherrscht. Was die Ursachen betraf, waren sie stets unterschiedlicher Meinung gewesen – mit der Folge, daß sie sich aus dem Weg gingen und ernsthafte Gespräche vermieden.
    Über den Vorwurf, nichts Anständiges gelernt zu haben – wie Claire Brodka sich ausdrückte –, hatte Brodka sich stets nur amüsiert. Die Benediktiner, in deren Internat er aufgewachsen war, hatten ihn dazu gedrängt, Priester zu werden. Aber mit der Religion hatte Brodka immer seine Probleme gehabt.
    Doch der Tod, mit dem er sich nun so plötzlich und unerwartet konfrontiert sah, jagte Brodka Schauder über den Rücken und verunsicherte ihn zutiefst, weil ihm mit einem Mal die Unabänderlichkeit des Schicksals deutlich wurde. Obwohl die Sonne gnadenlos vom Himmel brannte, fröstelte er innerlich und ertappte sich dabei, wie er den Kopf schüttelte, als wollte er das Geschehene ungeschehen machen, als wollte er sagen: Es ist nicht wahr, du träumst …
    Während vor ihm weiße Seevögel ins Meer schossen und mit zappelnder Beute aus dem Wasser tauchten, dachte Brodka an seine ferne Kindheit zurück.
    Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als seine Mutter ihn mit neun Jahren auf ein Internat der Benediktiner schickte. Oder wie er mit vierzehn zum erstenmal fortlief wütend über die strenge Erziehung, und wie er drei Tage in einer Scheune schlief, bis der Hunger ihn aus seinem Versteck trieb – direkt in die Arme einer Polizeistreife. Oder wie er sich gegen den Willen der Mutter eine Posaune kaufte, auf Teilzahlung und ohne Aussicht, die Raten bezahlen zu können (was sich als zutreffend erwies), weil er ein zweiter Glenn Miller werden wollte (was sich als Fehlschlag erwies).
    In seinem Innern mischten sich Verunsicherung und Ratlosigkeit, als er hinter sich Florentinas Stimme hörte: »Tut mir leid für dich, Brodka, wirklich.«
    Brodka wandte sich um und nickte. »Schon gut.« Dann watete er zurück in den Sand.
    Flo blickte ihn von der Seite an. Nach einer Weile sagte sie: »Ich glaube, es ist besser, wenn wir abbrechen.«
    Die Bemerkung riß Brodka aus seiner Lethargie. »Abbrechen? Bist du verrückt? In zwei Tagen ist die Produktion im Kasten. Wir machen weiter. Am Nachmittag, wie abgesprochen.«
    »Wie du willst«, erwiderte Flo. Eigentlich hatte sie von Brodka nichts anderes erwartet.
    Novembernebel tropfte von den Bäumen, als Brodka seinen Jaguar an der Backsteinmauer vor dem Waldfriedhof in München parkte. Fröstelnd schlug er den Kragen seines Mantels hoch und strebte dem Eingang zu, der von einem hohen Eisengitter verschlossen wurde.
    Bisher hatte Brodka nicht in Erfahrung bringen können, weshalb seine Mutter gerade auf diesem Friedhof beerdigt worden war; es erwies sich ohnehin als schwierig, die näheren Umstände ihres Todes und der anschließenden Beisetzung zu klären. Zuerst einmal mußten Behördengänge erledigt, Rechnungen beglichen, Telefonate geführt und ein endloser Strom von Formularen ausgefüllt werden – der Tod war eine komplizierte Angelegenheit.
    Am Tor kam Brodka eine schweigsame, dunkel gekleidete Trauergesellschaft entgegen, gefolgt von zwei beschirmten älteren Damen, die aus nicht erkennbarem Grund in heftigen Streit vertieft waren. Ein Schild mit der Aufschrift ›Friedhofsverwaltung‹ und einem Pfeil zeigte nach links zu einem ebenerdigen Gebäude mit vergitterten Fenstern.
    Ein grauhaariger, nachlässig gekleideter Mann, den der tägliche Umgang mit Tod und Trauer vorzeitig hatte altern lassen, erklärte Brodka mit ausgesuchter Höflichkeit, auf welcher Parzelle das Grab seiner Mutter zu finden sei, nicht ohne ihm freundlich nickend eine Karte zuzustecken, auf der sich ein Steinmetzunternehmen in der näheren Umgebung zur Anfertigung eines Marmorgrabsteins
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