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Puppentod

Titel: Puppentod
Autoren: Katharina Winter
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bewegen. Mucksmäuschenstill sein.
    Sie würde hinter der Gardine ersticken. Sie wollte weinen. Nur das durfte sie nicht. Das hätte sie verraten.

    Nicht weinen. Nicht atmen. Nicht bewegen.
    Plötzlich kam noch jemand ins Zimmer. Ein Mann, das erkannte sie an den schweren Schritten. Er ging nur ein kleines Stück in den Raum hinein, höchstens bis zum Kachelofen. Dann blieb er stehen und sagte etwas. Seine Stimme war ganz deutlich. Sie konnte alles genau hören, sie verstand jedes Wort …
    Schweißgebadet, mit rasendem Herzen und nach Luft ringend, erwachte Lisa aus ihrem Traum. Um sie herum war es dunkel. So dunkel wie damals. Wo war sie?
    Nicht hinter dem Vorhang. Und nicht im Haus des Puppendoktors, der sich vor ihren Augen aufgehängt hatte.
    Sie versuchte, sich zu orientieren. Sie lag neben Michael in einem Bett mit weichen, kuscheligen Kissen. Es war alles in Ordnung, sie musste nur ruhig und gleichmäßig atmen. Sie stand nicht hinter der Gardine, und sie würde nicht ersticken. Ruhig und gleichmäßig atmen. Tief einatmen und langsam wieder ausatmen - so war es gut. So beruhigte sich ihr Herzschlag, und die Erinnerung an den Traum kehrte zurück. Sie hatte jetzt verstanden, was der Mann damals gesagt hatte. Endlich. Es wurde Zeit, den Plan zu vollenden.

11
    Es dämmerte bereits, als Michael erwachte. Sofort drehte er sich zu Lisa um. Das Bett neben ihm war leer.
    Er schlug die Decke zurück und setzte sich auf den Bettrand. Er war noch ganz verschlafen und hatte einen so trockenen Mund, dass seine Zunge fast am Gaumen festklebte. Deshalb setzte er die Wasserflasche an, die auf seinem Nachtschrank stand, und leerte sie bis auf den letzten Tropfen. Danach tappte er durch das halbdunkle Zimmer zum Fenster, weil er hoffte, Lisa würde unten am Seeufer stehen und ihre Übungen machen. Doch dort war sie nicht. Alles, was er sah, waren dunkle Wolken, die tief über dem See hingen. Das würde ein trüber Tag werden, dachte er und wollte gerade wieder ins Bett zurück, als er plötzlich etwas Eigenartiges bemerkte: Im Bootshaus brannte Licht. Aus dem Büro seines Großvaters drang ein schwacher Lichtschein durch die maroden Fensterläden.
    Lisa!, schoss es ihm durch den Kopf. Warum er ausgerechnet Lisa um diese Zeit im Bootshaus vermutete, wusste er nicht. Doch er war sich sicher, dass er mit dieser Vermutung richtig lag.
    Hastig zog er sich an und rannte hinunter zum See. Im Bootshaus jedoch war niemand, und die Eisentür zum Büro seines Großvaters war verschlossen. Nur das Licht darin brannte immer noch.
    »Lisa«, rief er und hämmerte wie ein Besessener gegen die Tür. Wieder und wieder drückte er die Klinke nach unten. Doch es blieb alles still.
    Daraufhin lief er zurück zur Villa und begann sie zu suchen. Das ganze Haus suchte er nach ihr ab, systematisch
von oben nach unten. Jede Tür stieß er auf, machte überall Licht an und rief laut ihren Namen. Doch es gab keine Spur von ihr. Er stellte lediglich fest, dass die Schlafzimmertür seiner Eltern offen stand und das Bett unberührt war. Sein Vater hatte die Nacht wahrscheinlich in den Armen seiner jungen Geliebten verbracht, der er, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, seit Jahren schon eine teure Villa in Grünwald und einen aufwendigen Lebensstil finanzierte.
    Er stieß die Tür zum großen Gästezimmer auf. Auch hier war Lisa nicht. Sie war fort und würde nicht wiederkommen. Das spürte er. Nur akzeptieren wollte er es nicht. Er musste sie finden. Irgendwo musste sie sein.
    Er hastete hinunter in den Empfangsbereich, zog seine Jacke an, griff nach dem Autoschlüssel und hetzte zu seinem Wagen. Dann raste er los, die Seestraße entlang, durch das Waldstück und die kleine Ortschaft hindurch, bis er an der St.-Anna-Kapelle mit quietschenden Rädern zum Stehen kam. Das Haus des Puppendoktors lag im grauen Licht des Morgens, der Dunst hing über dem Wald, und die dichten Wolken versprühten in monotoner Gleichmäßigkeit einen hässlichen Nieselregen.
    Er lief durch den Garten, stieß mit einem kräftigen Fußtritt die verschlossene Eingangstür auf und wollte gerade in das Wohnzimmer stürmen, als er wie angewurzelt im Türrahmen stehen blieb. Mitten im Raum, auf den Holzdielen des Fußbodens, saß eine Puppe. Eine Puppe in einem schwarzen Kleid, die einen breitkrempigen Hut aus schwarzer Spitze trug und ihn mit ihren
großen, dunklen Knopfaugen so freundlich anlächelte, als hätte sie ihn erwartet.
    Nummer vier, dachte er.
    Er lief die Treppe
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