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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm
Autoren: Jakob Maria Soedher
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nüchtern.
    Schielin ließ sich nicht auf die Frage ein, fasste das Türblatt und drückte es nach innen auf. Sie ließ es zu und machte den Eingang frei. Er stand in einem düsteren Flur, der auf einen Rundbogen zulief, wo Schielin die Gestalt einer weiteren Frau gewahrte, die dort im Halbdunkel stand, bewegungslos auf einen Stock gestützt.
    Lydia Naber war ihm gefolgt, und er hörte, wie sich hinter ihm die Tür schloss. Er ging auf die Frau mit Stock zu, stellte sich vor, und als die Missmutige bei ihnen angelangt war, sagte er mit fester Stimme, was zu sagen war: »Frau Kinker. Wir haben keine gute Nachricht zu überbringen. Ihr Bruder wurde heute Morgen tot aufgefunden. Er ist erstochen worden. Es tut uns leid, unser herzlichstes Beileid.« Einige Sekunden später fügte er hinzu: »Wir müssen mit ihnen darüber reden.«
    Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass es sich bei der Missmutigen um die Schwester des Opfers handeln musste. Er wartete. Wartete auf eine Reaktion, die seine Worte hätten auslösen sollen. Weinen, Schreien, Schimpfen. Alles, fast alles war denkbar. Schlimm aber war es, wenn die Todesbotschaft auf fassungsloses Schweigen traf, wenn Stille herrschte, ein Nichts, das sich der Zeit bemächtigte und sich ausdehnte. Mit der Stille umzugehen war schwer. Hier war alles anders.
    Ottmar Kinkers Schwester stutzte kurz und sah ihn irritiert an. Dann ging sie mit schnellen Schritten an ihm vorbei, in den Raum, in welchem auch die Alte mit dem Stock nach seinen Worten stumm verschwunden war. Fast schien es, als habe Schielin die beiden Frauen beleidigt. Fragend schaute er zu Lydia, die seinen Blick mit einem Schulterzucken beantwortete. Dann folgten sie der Missmutigen und gelangten in einen Raum, der woanders das Wohnzimmer gewesen wäre. Eine breite Fensterfront wies nach Süden mit Blick auf eine Wiese. Linker Seite war die Coca-Cola-Abfüllung zu sehen. Geradeaus, hinter dem, was im Verlauf des Jahres noch ein Maisfeld werden würde, erhoben sich die Berge. Die Alte hatte sich an den Tisch gesetzt, der in der Mitte des Raumes stand. Eine Tasse stand blank auf dem Tischblatt, an den Rändern ebenso angeschlagen wie die Tischkante zerfurcht. Ein ehemaliges Senfglas enthielt Zucker, darin ein verbogener Blechlöffel mit dunklen Rändern.
    Vier Stühle an jeder Seite des Tisches, ein Sideboard, kahle Wände, bis auf einen Kalender, der da traurig hing. Der Fotokarton war ausgeblichen, die Fotografien auch. Dem aktuellen Motiv nach handelte es sich um einen Alpenkalender – Jahre alt. Auf dem Linoleumboden lag ein abgewetzter graublauer Teppich. Sonst gab es nichts, was den Raum zu einer Heimstatt hätte machen können.
    Tochter und Mutter saßen sich an der Längsseite des Tisches gegenüber. Schielin und Lydia wählten unaufgefordert die schmalen Seiten und setzten sich auf die unbezogenen Holzstühle, auf deren Sitzflächen blass-grüne Häkelkissen lauerten und unangenehm drückten. Hier saß niemand gerne.
    Schielin registrierte das alles und fragte dann ruhig. »Sie haben verstanden, was ich Ihnen gerade gesagt habe?«
    Die Alte sah ihn nicht an, sagte auch kein Wort. Sie presste die Lippen aufeinander, sodass sich durch den Druck Unter- und Oberlippe nach vorne wölbten. Es sah nicht aus, als würde sie die Nachricht aus der Fassung bringen. Eher gewann Schielin den Eindruck, dass dieser Gesichtsausdruck Zeichen eines stummen, inneren Zornes war.
    Im Gegensatz zu ihrer schlaksigen Tochter war Meta Kinker ein eher untersetzter Typ. Sie hatte graue, deutlich widerborstige Haare, die sie formlos bis zur Schulter wachsen ließ. Von Statur her waren sie gegensätzliche Typen. Was Mutter und Tochter jedoch verband, war die Festigkeit ihres ablehnenden Gesichtsausdrucks. War es bei Helmtraud Kinker ein aus ihrem tiefsten Inneren strahlender Missmut, so brachte ihre Mutter einen bitteren Stolz zwischen diese Wände. In den Sekunden des Schweigens, die entstanden und in denen Schielin seine Gedanken um die beiden alten Frauen kreisen ließ, meinte er in der Haltung der Mutter eine Art Bejahung festzustellen, die Anerkennung von etwas Unausweichlichem. Fast schien es ihm, als hätte sie damit gerechnet, dass irgendwann ein Polizist kommen würde, um eine solche oder gerade diese Nachricht zu überbringen. Er sah zu Lydia, deren Gesichtsausdruck er entnehmen konnte, dass sich auch ihr Mitleid mit den Hinterbliebenen in Grenzen hielt.
    Sie war es, die jetzt das Wort ergriff. Ruhig und mit langsamen
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