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Pulverfass Iran

Pulverfass Iran

Titel: Pulverfass Iran
Autoren: Kamran Safiarian
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ganz einfachen Fahrten im Taxi sind wir immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, nicht laut, offen oder frei zu reden, wenn wir über die politischen Zustände im Iran und das Regime sprechen. Nicht |18| selten, so erzählte man uns, wird Gehörtes aufgeschnappt und verraten. So habe sich etwa der Taxifahrer selbst oder ein Mitfahrer als ehemaliges oder aktuelles Mitglied des Geheimdienstes entpuppt und besagte Inhalte an den Arbeitgeber weitergegeben. Man mag das für eine Art Verschwörungstheorie halten, die an die Praktiken der Stasi in der früheren DDR erinnert. Doch leider gibt es viele solcher Berichte. Ein im Iran lebender Regisseur berichtete uns im Zuge der Niederschlagung der Grünen Bewegung im Juni 2009, dass seine Nachbarn nach einem Telefongespräch, in dem sie sich kritisch über die Regierung geäußert hatten, vom Geheimdienst aufgesucht und zum Verhör mitgenommen wurden.
    Das alles hat zur Folge, dass die Gesellschaft zunehmend gelähmt wirkt. Besonders die jungen Iraner sind Meister der Verdrängung geworden und ihre Enttäuschung über die Niederschlagung der Reformbewegung im Jahre 2009 hat viele dazu gebracht, sich völlig aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Nicht selten suchen sie Zuflucht in Alkohol und Drogen (s. Kapitel 3). Andere wählen die Kunst als Ausdruck ihres Protestes oder suchen das große Geld im Big Business. Doch die Probleme und die Protestbewegung werden sich auf Dauer nicht verdrängen oder einschließen lassen. Sie werden sich irgendwann gewaltsam Luft machen.
    Taqqiya, Taroof und die Kunst der Verstellung
    Die „iranische Seele“ sei komplex und unberechenbar, „Spontaneität und Intuition gehören zu den großen Stärken dieser Gesellschaft“, schreibt Cheheltan. 7 Der Iran und seine Menschen haben im Laufe ihrer Geschichte harte Zeiten erlebt und waren im Laufe der Jahrhunderte durch verschiedenste Herrscher, Kulturen und Religionen mit so vielen unterschiedlichen Situationen konfrontiert, dass sie gelernt haben sich anzupassen, sich zu verstellen oder gar – in Bezug auf die Religion – |19| ihre Identität zu verleugnen, um überleben zu können. Der Iraner hat ein hohes Maß an Flexibilität entwickelt und ist in seiner ganzen Person so vielschichtig, dass es schwierig ist, ihn zu durchschauen oder auch eine Beziehung zu ihm aufzubauen, da man sich nie sicher sein kann, was er wirklich meint oder welche „Maske“ er gerade aufgesetzt hat.
    So ist eine „Kultur der Verstellung“, „der Unaufrichtigkeit“, „der Verborgenheit“ entstanden, die Kritiker des jetzigen Systems auch in der religiösen Kultur zu begründen versuchen. Sie deuten die Kunst der Täuschung als mögliche Folge der schiitischen Prägung des Islam, der im 16. Jahrhundert unter den Safawiden zur Staatsreligion wurde. Im schiitischen Islam gibt es unter dem Stichwort Taqiyya die Erlaubnis, unter Gefahr oder Zwang rituelle Pflichten zu missachten und den eigenen Glauben zu verheimlichen. Die Taqiyya entwickelte sich im 9./10. Jahrhundert als Reaktion der schiitischen Minderheit auf Verfolgungen durch die sunnitische Mehrheit. Um die Sicherheit einzelner Glaubensbrüder oder der Gesamtgemeinde in feindlicher Umgebung zu gewährleisten, hatten die Gelehrten der Schia eine spezifische Lehre entwickelt. Diese erlaubt es, das eigene Bekenntnis zu verschweigen. So war es den Schiiten erlaubt, ja sogar geboten, den eigenen Glauben in einer feindlich gesonnenen Umwelt oder zum Schutz der schiitischen Gemeinde bewusst zu verbergen. Die Verstellung, wenn sie dem Schutz und Erhalt der eigenen Religion dient, ist demnach ausdrücklich gestattet. Besonders nach den Ereignissen des 11. September und des Zusammenpralls der Kulturen und Religionen führten Islamkritiker die Praxis der Taqiyya oft als Erklärung für Äußerungen von Muslimen an, die sich in westlichen Gesellschaften nach außen hin als liberal darstellen, insgeheim jedoch fundamentalistisch geprägt wären und extremistisches Gedankengut verträten. Die liberale Meinung sei nicht aufrichtig, so die Kritiker, sie verheimliche die wahre Position und Absicht derjenigen, die sie geäußert haben. Die Taqiyya wird häufig auch dazu benutzt, Muslimen generell zu |20| unterstellen, aus Nutzenkalkül heraus, das heißt, weil es der Ausbreitung und der Idee des Islams dienlich sei, die „Ungläubigen“ über ihre wahren Absichten täuschen zu wollen. Ob dieser Zusammenhang zwischen der schiitischen Praxis der Taqiyya und der
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