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Pulverfass Iran

Pulverfass Iran

Titel: Pulverfass Iran
Autoren: Kamran Safiarian
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Doppelbödigkeit der iranischen Seele wirklich besteht, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass im heutigen Iran unter den Bedingungen politischer Unterdrückung die Verstellung und Täuschung zum Alltag vieler Iraner gehört. Niemand sagt offen, schon gar nicht öffentlich, was er wirklich denkt, und alle haben sich daran gewöhnt, die eigenen Überzeugungen zu verbergen. Die öffentliche Propaganda lehrt die Kinder bereits in den Schulen, dass das islamische System das einzig Wahre sei. Was sie aber wirklich lernen, ist die Kunst des Versteckspiels und des Lavierens. Jede ihrer kleinen Freiheiten wird mit Lügen, Halbwahrheiten und Heuchelei erkauft. Sie wachsen bereits damit auf, in der Schule nicht erzählen zu dürfen, welche politischen Ansichten die Eltern zu Hause am Essenstisch vertreten. So lernen Jugendliche bereits im Kindesalter zu lügen oder zu heucheln. Besonders junge Mädchen werden im Allgemeinen nicht offen darüber sprechen, mit wem sie sich in welchem Park verabredet oder wo sie mit wem Zärtlichkeiten ausgetauscht haben. Das Problem daran, sich häufig zu verstellen und seine wahren Absichten zu verbergen, ist, dass es irgendwann für viele selbst undurchsichtig wird, wer sie eigentlich sind und wer sie vorgeben zu sein. Für viele bedeutet das eine permanente Identitätssuche und auch Identitätsverlust. Wer bin ich wo? Wo darf ich wie sein? Schon auf der Straße vor dem Nachbarn verhält man sich anders, denn die Nachbarschaft oder Bekannte könnten ja ein schlechtes Bild von der Familie bekommen. Das Unverbindliche und das Vage gehören so zum Wesen und der doppelten Wirklichkeit im Leben der iranischen Gesellschaft.
    Besonders deutlich wird dies insbesondere am Beispiel der iranischen Höflichkeitskultur. Die persische Höflichkeit (Taroof), die auf Arabisch „angemessenes und übliches Betragen“ |21| bedeutet, ist im Iran bei öffentlichen Anlässen, Besuchen und auch in der iranischen Begrüßungskultur stark ausgeprägt. Wenn man mit Iranern zu tun hat – sei es aus Anlass eines Besuches oder am Telefon –, dann wird eine ganze Salve von Höflichkeitsfloskeln losgelassen: „Wie geht es Ihnen?“, „Seien Sie nicht müde, bleiben Sie immer gesund“, „Ich bin Ihr Diener“, „Ich stehe stets zu Ihren Diensten“ oder „Es ist mir eine Ehre“. Am Telefon dauert es häufig bis zu einer Minute, bis die Begrüßungsarie vorbei ist und das tatsächliche Gespräch beginnen kann. Auch die Redewendung „Ich bin kleiner und jünger als Sie und ihr Ergebener“ hört man häufig. Und wenn sich jemand bedanken will, dann heißt es: „Mögen Ihre Hände nicht weh tun“. Wenn man bei einer iranischen Familie zu Besuch ist, wird dem Gast immer angeboten, zum Essen zu bleiben. Doch das Angebot ist meist nicht ernst gemeint, man will höflich sein und sich das gegenseitige Wohlwollen sichern. Das alles sind Phrasen, die die Iraner seit Jahrhunderten benutzen. Für den im Iran lebenden britischen Autor Christopher de Bellaiguie bedeutet die Höflichkeitskultur sogar „zeremonielle Unaufrichtigkeit“, die jedoch, so de Bellaigue in seinem Buch „Im Rosengarten der Märtyrer“, nicht negativ belastet ist. Der Iran sei das einzige ihm bekannte Land, in dem Heuchelei als gesellschaftliche und geschäftliche Fähigkeit geschätzt werde, so de Bellaigue in seinem ebenso amüsanten wie informativen Buch. 8 Die besagte Essenseinladung sollte einige Male abgelehnt werden, um den Gastgeber, der die Einladung vielleicht nur aus purer Höflichkeit ausgesprochen hat, nicht zu nötigen, und um sich dessen festen Vorhabens zu versichern. Erst dann darf die Einladung angenommen werden.
    Die Faustregel besagt, dass man jede Offerte zweimal ablehnen sollte, will man den Einladenden nicht in Verlegenheit bringen. Damit keiner der Beteiligten Gefahr läuft, dass er durch Plumpheit, Unhöflichkeit oder unbotmäßige Forderungen für Verstimmung sorgt, tastet man sich durch vorsichtige Zurückhaltung an die jeweilige Situation heran. Für Nicht-Iraner |22| bringt das so manche Kuriosität mit sich. Wenn man im Iran Taxi fährt, bekommt man gewöhnlich als Antwort auf die Frage, wie hoch der Fahrpreis sei: „Es ist der Rede nicht wert“ oder „Das Ganze ist Ihnen nicht würdig“. Ausländische Gäste oder Besucher, die das Gebot des Taroof nicht kennen, nehmen das Angebot häufig dankend an, verabschieden sich und sind dann erstaunt, wenn ihnen der Taxifahrer hinterherfährt, um sein Geld doch noch
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