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Pulverfass Iran

Pulverfass Iran

Titel: Pulverfass Iran
Autoren: Kamran Safiarian
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Pahlavi als Marionette der USA. Der persische Patriotismus und Unabhängigkeitsgedanke waren es auch, die Chomeini den Boden bereiteten. Heute ist der Enthusiasmus der Revolutionsjahre längst der Ernüchterung gewichen. Die Revolution hat zwar nicht die erhoffte Freiheit gebracht, auch keinen Wohlstand, aber wenigstens das Gefühl, unabhängig zu sein.
    Leben in zwei Welten
    Wer in einer Gesellschaft wie der iranischen lebt, lebt immer in zwei Welten – der privaten zu Hause in den eigenen vier Wänden |16| und der öffentlichen Welt draußen. Oder anders ausgedrückt: in einer öffentlichen Scheinwelt und dem Exil des Privaten. Radikaler, tiefer und schmerzhafter als im Iran können privater und öffentlicher Raum wohl nicht getrennt sein. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das wahre gesellschaftliche Leben der Iraner in die eigenen vier Wände verlagert. Inzwischen zwingt die verordnete Islamisierung aller Lebensbereiche im öffentlichen Raum viele Iraner regelrecht in die Flucht nach innen. Der strenge Moralkodex und die drakonischen Strafen bei Vergehen gegen die öffentliche islamische Ordnung bringen die jungen Menschen dazu, sich in der Öffentlichkeit anders zu kleiden und anders zu verhalten als in der Privatsphäre. Nach außen kleidet und verhält man sich konform, wie die Gesetze es vorgeben, im privaten Raum aber lebt der größte Teil der Bevölkerung nach seinen eigenen Gesetzen. Das gesellschaftliche Leben pulsiert hinter den Mauern der Häuser in den eigenen vier Wänden: Je nachdem, ob man sich in einer modernen oder konservativen Familie befindet, sitzt man – Männer und Frauen gemeinsam, ohne die Schleierpflicht zu befolgen, trinkt Tee und diskutiert über Gott und die Welt. Das Verbotene wird im Verborgenen ausgelebt. „Die Iraner sind wahre Meister des Maskenspiels“, schreibt der bekannte iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan. In der Privatsphäre zeigen sie ihr eigenes Gesicht, schon vor den Nachbarn verändert es sich. Im Arbeitsbereich ist diese Veränderung noch stärker zu beobachten. So hat sich besonders in Teheran eine lebendige Untergrundkultur entwickelt. 6
    Tagsüber wird in den Schulen, den Universitäten, am Arbeitsplatz und in Restaurants der Schleierzwang befolgt, da das Frauenhaar im Gottesstaat Iran aus dem öffentlichen Raum unter das Kopftuch, den Tschador, verbannt ist. Doch zu Hause, hinter verschlossenen Türen und Rollläden, trägt man nach Feierabend oder am Wochenende keinen Schleier, viele Verbote, wie das Verbot des Alkoholkonsums, werden übergangen und man feiert gemeinsam oder schaut „westliches |17| Fernsehen“ unter Umgehung des Verbots von Satellitenschüsseln. Oder man besorgt sich die neuesten DV D-Raubkopien auf dem Schwarzmarkt oder in einem der vielen Geschäfte, in denen die aktuellsten Hollywoodstreifen unter dem Ladentisch zu haben sind. Die jungen Iraner lassen es sich nicht nehmen, genauso wie die meisten jungen Leute in den USA oder in Europa ihre Freiheiten zu genießen und kümmern sich dabei wenig um die strengen Moralvorschriften im Gottesstaat. An Wochenenden laden sie ihre Freunde ein und feiern ausgelassene Partys. Viele Iraner führen in diesen Tagen eine Art Doppelleben. Kazem, ein Chemieunternehmer, den wir auf einer privaten Feier kennengelernt haben, erzählt uns, dass im Iran alle das Problem der zwei Persönlichkeiten haben. „Tagsüber die eine, abends die andere. Tagsüber gehen wir unserer Arbeit nach – da sind wir auch mit religiösen Gesetzen und Vorschriften konfrontiert. Abends gehen wir mit Freunden auf Partys. Das ist nun einmal unser Schicksal“, so der 3 9-Jährige . „Wir leben hier in verschiedenen Welten. Hier bei der Arbeit ist es völlig anders als in der Freizeit. Es ist, als ob man immer wieder auf eine lange Reise geht und dann in die Realität zurückkommt. Das Leben im Iran ist wie eine Art Tag- und Nachttraum“, erklärt uns auch die attraktive Wirtschaftswissenschaftlerin Anita.
    Bei vielen, besonders bei jungen Leuten, zieht das eine Art Identitätskrise nach sich. Wo tue ich was, wie verhalte ich mich hier, was darf ich öffentlich sagen und was nur im privaten Raum. Jede politische Äußerung in der Öffentlichkeit kann gefährlich werden, beispielsweise bei einem Essen mit Freunden im Restaurant. Bei vielen Besuchen und journalistischen Reisen in den Iran ist uns auch immer wieder von einer häufig auftretenden Form des Denunziantentums berichtet worden. Ob bei Restaurantbesuchen oder
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