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Puls

Puls

Titel: Puls
Autoren: Stephen King
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genannten Normies. Jedenfalls hätten sie nicht darin gewetteifert, benzinsaufende Geländewagenmonster zu kaufen, nicht mit ihren Levitationsfähigkeiten (oder was das anbetraf, mit ihren recht primitiven Konsumwünschen). Verdammt, sogar ihr Musikgeschmack hatte sich zum Ende hin gebessert.
    Aber was ist uns anderes übrig geblieben?, dachte Clay. Der Überlebenstrieb ist wie die Liebe. Beide sind blind.
    Dann übermannte ihn der Schlaf vollends, und er träumte nicht etwa von dem Gemetzel auf der Expo. Er träumte, er sitze in einem Bingozelt, und als der Ausrufer B-12 verkündete (Es ist das Sonnenschein-Vitamin!), spürte er, dass etwas an seinem Hosenbein zupfte. Er sah unter den Tisch. Dort kauerte Johnny und lächelte zu ihm auf. Und irgendwo klingelte ein Handy.

3
    Weder war die Aggressivität der Phoner-Flüchtlinge gänzlich erloschen, noch hatten sie ihre neuen Fähigkeiten ganz verlernt. Gegen Mittag des folgenden Tages, der kalt und windig war, als läge ein Vorgeschmack von November in der Luft, blieb Clay stehen, um zwei von ihnen zu beobachten, die sich am Straßenrand einen erbitterten Kampf lieferten. Sie boxten, dann kratzten und krallten sie und rangen schließlich miteinander, versetzten sich Kopfstöße und bissen einander in Hals und Backen. Dabei fingen sie an, sich langsam von der Straße zu erheben. Während Clay sie mit offen stehendem Mund angaffte, erreichten sie eine Höhe von gut drei Metern und kämpften dort breitbeinig eingestemmt weiter, als stünden sie auf einem unsichtbaren Boden. Dann schlug einer von ihnen seine Zähne in die Nase des Gegners, der ein zerfetztes, blutbeflecktes T-Shirt mit den Worten HEAVY FUEL auf der Brust trug. Nasenbeißer stieß HEAVY FUEL zurück. HEAVY FUEL taumelte, dann plumpste er wie ein in einen Brunnen geworfener Felsbrocken in die Tiefe. Dabei strömte das Blut aus seiner zerbissenen Nase nach oben. Nasenbeißer sah nach unten, schien jetzt erst wahrzunehmen, dass er sich in Balkonhöhe über der Straße befand, und stürzte hinterher. Wie Dumbo, der seine Zauberfeder verloren hat, dachte Clay. Nasenbeißer verrenkte sich das Knie, blieb im Staub liegen und knurrte Clay mit blutbefleckten gefletschten Zähnen an, als dieser an ihm vorbei weiterging.
    Trotzdem waren diese beiden eine Ausnahme. Die meisten Phoner, denen Clay begegnete (an diesem Tag und in der ganzen folgenden Woche sah er keinen einzigen Normie), wirkten so, als hätten sie sich verlaufen, und waren sichtbar verwirrt, weil kein kollektives Schwarmbewusstsein mehr hinter ihnen stand. Clay musste immer wieder an etwas denken, was Jordan gesagt hatte, bevor er in den Van gestiegen war, um in die Wälder im Norden zu fahren, wo Handys unbrauchbar waren: Wenn der Virus weitermutiert, werden die zuletzt Konvertierten weder Phoner noch Normies sein, jedenfalls keine richtigen.
    Clay glaubte, das bedeute Wesen wie Pixie Dark, nur etwas weniger zurechnungsfähig. Wer bist du? Wer bin ich? Diese Fragen konnte er jetzt schon in den Augen jener neuen Spezies sehen, und er vermutete - nein, er wusste -, dass sie diese Fragen zu stellen versuchten, wenn sie ihr wirres Zeug brabbelten.
    Er fragte weiter: Hast du einen Jungen gesehen?, und versuchte dabei, Johnnys Bild zu projizieren, aber er hoffte jetzt nicht mehr auf eine verständliche Antwort. Meistens bekam er überhaupt keine Antwort. Die folgende Nacht verbrachte er ungefähr fünf Meilen nördlich von Gurleyville in einem Wohnwagen, und am nächsten Morgen kurz nach neun Uhr erspähte er eine kleine Gestalt, die mitten in dem nur einen Straßenblock langen Geschäftsbezirk der Ortschaft vor dem Cafe Gurleyville auf dem Randstein hockte.
    Das kann nicht sein, dachte Clay, ging aber sofort schneller, und als er näher herankam - nahe genug, um sich fast sicher zu sein, dass dort ein Kind, nicht etwa nur ein kleiner Erwachsener saß -, begann er zu rennen. Sein neuer Rucksack hüpfte auf dem Rücken auf und ab. Seine Füße erreichten die Stelle, wo Gurleyvilles einziger kurzer Gehsteig begann, und klatschten dort auf den Beton.
    Es war ein Junge.
    Ein sehr magerer Junge mit langem Haar, das bis fast auf die Schultern seines Red-Sox-Trikots fiel.
    »Johnny!«, brüllte Clay. »Johnny, Johnny-Gee!«
    Der Junge wandte sich erschrocken der lauten Stimme zu. Sein Mund hing in ausdrucksloser Leere offen. In seinen Augen stand nichts als verschwommene Besorgnis. Er schien darüber nachzudenken, ob er flüchten solle, aber bevor er auch nur
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