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Puls

Puls

Titel: Puls
Autoren: Stephen King
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sich ihnen mit seinen energischen Schritten näherte, sodass die Klinge kurze Aufwärts- und Abwärtsbogen durch die Luft beschrieb. Von diesem Schema wich er nur einmal ab, um sich selbst eine Schnittwunde beizubringen. Ein frisches Rinnsal Blut floss aus einem neuen Riss in seinem zerfetzten Hemd. Die Überreste seiner Krawatte flatterten. Und während er die Entfernung verringerte, donnerte er mit Stentorstimme auf sie ein wie ein hinterwäldlerischer Prediger, der im Augenblick irgendeiner göttlichen Eingebung in Zungen sprach.
    »Eyelah!«, brüllte er. »Eeelah-eyelah-a-babbalah naz! A-babba-lah why? A-bunnaloo coy? Kazzalah! Kazzalah-CA N! Fiel SHY -fie!« Und nun führte er das Messer an die rechte Hüfte und darüber hinaus zurück, und Clay, dessen visuelle Begabung vielleicht überentwickelt war, sah sofort den weit ausholenden Stoß, der folgen würde. Den aufschlitzenden Messerstoß, den er führte, noch während er an diesem Oktobernachmittag mit diesen energischen, deklamatorischen Schritten seinen verrückten Marsch ins Nichts fortsetzte.
    »Vorsicht!«, kreischte der kleine Kerl mit dem Schnurrbart, aber er sah sich nicht vor; der kleine Kerl mit dem Schnurrbart, der erste normale Mensch, mit dem Clayton Riddell gesprochen hatte, seit dieser Wahnsinn losbrach - der sogar ihn angesprochen hatte, was unter den Umständen wahrscheinlich etwas Mut erfordert hatte -, war wie gelähmt, und seine Augen hinter den goldgeränderten Brillengläsern waren größer als je zuvor. Und hatte der Verrückte es auf ihn abgesehen, weil der Schnurrbärtige der kleinere der beiden Männer war und wie die leichtere Beute aussah? Dann war Mr. Spricht-in-Zungen vielleicht nicht vollständig verrückt, und Clay war plötzlich nicht nur ängstlich, sondern auch wütend, wie er vielleicht wütend gewesen wäre, wenn er beim Blick durch einen Schulzaun einen Rowdy gesehen hätte, der gerade über einen kleineren, jüngeren Mitschüler herfallen wollte.
    »VORSICHT!«, jaulte der kleine Mann mit dem Schnurrbart beinahe, aber er rührte sich noch immer nicht, als sein Tod heranfegte, der Tod, der aus einem Geschäft namens Soul Kitchen befreit worden war, in dem MasterCard und Visa zweifellos ebenso akzeptiert wurden wie »Ihr persönlicher Scheck unter Vorlage der Bankkarte«.
    Clay dachte nicht nach. Er hob einfach seine Künstlermappe an ihrem Doppelgriff auf und schob sie zwischen das zustechende Messer und seinen neuen Bekannten in dem Tweedanzug. Die Klinge durchbohrte sie zwar mit einem hohlen Tock völlig, aber ihre Spitze blieb ungefähr zehn Zentimeter vor dem Bauch des kleinen Mannes stehen. Der kleine Mann kam endlich zur Besinnung, wich in Richtung Stadtpark zur Seite aus und schrie dabei um Hilfe, so laut er nur konnte.
    Der Mann in dem zerfetzten Hemd mit Krawatte - er hatte leichte Hängebacken und einen feisten Nacken, als ginge seine persönliche Gleichung zwischen gutem Essen und guter Gymnastik seit ungefähr zwei Jahren nicht mehr auf - hörte abrupt mit seinem Nonsensgerede auf. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck leerer Verwirrung an, die sich jedoch nicht zu Überraschung auswuchs, von Verblüffung ganz zu schweigen.
    Was Clay empfand, war ein irgendwie trübseliger Zorn. Die Klinge hatte sich durch alle seine Dark Wanderer-Bilder gebohrt (für ihn waren sie immer Bilder, nie bloß Zeichnungen oder Illustrationen), und er hatte das Gefühl, dieses Tock hätte ebenso gut die Klinge sein können, die in eine besondere Kammer seines Herzens stieß. Das war zwar dämlich, weil er von allem - auch von den vier Farbseiten - Repros hatte, aber das änderte nichts daran, wie ihm zumute war. Die Klinge des Verrückten hatte Hexer John (natürlich nach seinem eigenen Sohn benannt), den Zauberer Flak, Frank und die Posse Boys, Sleepy Gene, Poison Sally, Lily Astolet, die Blaue Hexe und natürlich Ray Damon, den Dark Wanderer selbst, aufgespießt. Seine ureigenen fantastischen Gestalten, die in der Höhle seiner Einbildungskraft lebten und im Begriff waren, ihn von der Fron zu erlösen, in einem Dutzend ländlicher Schulen in Maine Kunstunterricht erteilen, jeden Monat tausende von Meilen fahren und praktisch aus seinem Auto leben zu müssen.
    Er hätte schwören können, sie aufschreien gehört zu haben, als die Schwedenklinge des Verrückten sie durchbohrt hatte, wo sie in ihrer Unschuld schliefen.
    Wütend, nicht auf das Messer achtend (zumindest im Augenblick nicht), drängte er den Mann in dem zerfetzten Hemd
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