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Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)

Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)

Titel: Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Endl
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den ‚Meistern der Zeit’ ihre Ausrede aufs Peinlichste überprüfen lassen.
     
    Das Haus, zu dem Klirr die Klasse führte, war nicht weit von der Erziehungsanstalt entfernt. Es lag, wie alle wichtigen Gebäude, in der Nähe des Burg- und Tempelbezirkes. Dennoch war es Skaia noch nie aufgefallen, denn es unterschied sich in nichts von den meisten anderen Häusern der Stadt. Es war der übliche weiße Würfel mit den üblichen drei Stockwerken und einem rot schimmernden Dach, gebaut im üblichen Abstand zu den benachbarten Würfeln, ein x-beliebiger Punkt im immer gleichen Raster der Stadt. Neben der Eingangstür war die Hausnummer in die Mauer gestanzt. ‚1791’ stand dort, und jedes Kind konnte daran ablesen, wo es sich befand: im ersten Bezirk, auf dem siebten Strahl, vor dem 91. Haus. Die ganze Stadt gruppierte sich um den Burg- und Tempelbezirk herum. Die zwölf Strahlen, die von dort aus sternförmig in alle Richtungen liefen, waren die Hauptverkehrswege.
    Klirr nannte sie auch ‚Adern der Tugenden’. Mit ihrer schönen Symbolik durchzögen sie die ganze Stadt und erinnerten ihre Bewohner immer an das Wesentliche.
     
    Als Skaia einmal nachgefragt hatte, was das bedeuten solle, hatte er seinen grässlichen Blick auf sie gesenkt und ihr entgegengezischt: „Haben dir denn deine Eltern gar nichts beigebracht? Nicht einmal das! Und dein Bruder ist nicht besser! Ich werde ihm einen Brief schreiben müssen!“ Seine Stimme schien er nur mühsam bändigen zu können. „Die zwölf Strahlen und ihre Bedeutung! Die Säulen unserer Gesellschaft!! Unverzichtbar!!!“ Dann schnellte sein Arm mit ausgefahrenem Zeigefinger auf Skaias Banknachbarn Kygo zu. „Aufzählen! Erstens, zweitens, drittens ...!! Los!!!“
    Kygo, der nicht der Hellste, aber einer der Umgänglichsten in der Klasse war, versank fast unter der Tischplatte. Vor Klirrs Zeigefinger ging er in Deckung, bis nur noch sein Gesicht zu sehen war ― das allerdings deutlich. Kygo leuchtete so sehr, dass man ihn als Warnlampe vor jede Gefahrenquelle hätte stellen können ― vor furchtbare Erzieher zum Beispiel, dachte sich Skaia. Mit dünner Stimme begann Kygo seine Aufzählung: „Die Eins, das ist der Wille, denn der bringt ..., der bringt dich ...“
    „Voran! Voran bringt er dich!“, keifte Klirr.
    Kygos Miene hellte sich auf. Er schien sich zu erinnern.
    „Die Zwei, die mäßigt dich dann und wann!“, sagte er schnell.
    „Nein, nein, nein!“ Klirr sprang kreischend vor Kygo herum. Dann rief er im Staccato kreuz und quer Mädchen und Jungen auf. Niemand konnte die Merkverse fehlerfrei aufsagen. Damit war der Rest des Tages gelaufen. In den nächsten Stunden wurde auswendig gelernt, welcher Strahl für welche Tugend stand und wie das in Reimform zu klingen habe.
    Als sich die Stundenkugeln allmählich rot färbten und so das nahende Ende des Unterrichts ankündigten, forderte Klirr die Klasse unerbittlich auf, das lange Gedicht noch einmal laut und deutlich „und vor allem völlig korrekt“ aufzusagen. Skaia war offenbar nicht die einzige, die von den dauernden Wiederholungen schon ganz belämmert im Kopf war. Die meisten ihrer Mitschüler verzogen die Mundwinkel oder rollten mit den Augen, sofern sie sicher waren, dass Klirr nicht gerade zu ihnen sah. Klirr schwang seinen gefürchteten Arm wie einen monströsen Dirigentenstock. Er gab den Einsatz, und die ganze Klasse plärrte:
     
    „Die Eins ist der Wille,
    er bringt dich voran,
    die Zwei ist die Klarsicht,
    sie mäßigt dich dann,
    die Drei fordert ständiges
    Lernen von dir,
    ‚Und das mit Geduld’,
    rät weise die Vier,
    zum Glauben an dich
    sei die Fünf deine Wahl ...“
     
    Über diese Zeile stolperte Kygo. Skaia hätte schwören können, dass er gesagt hatte: „... sei die Fünf deine Qual“, dabei kam die „Qual“ erst bei der „Sechs“. Aber gut, Kygo murmelte sowieso so leise, dass ihn außer Skaia niemand verstand.
     
    „... doch ohne die planende
    Sechs wird’s zur Qual,
    den Ausgleich, den lobet
    dir wissend die Sieben,
    die Acht mahnet alle,
    das Schweigen zu lieben,
    Gerechtigkeit möchte
    die Neun von dir sehen,
    ‚Sei standhaft!’,
    so lautet das Motto der Zehn,
    ‚Erforschen, erfinden!’,
    ruft da noch die Elf,
    und allen zu Hilfe
    kommt immer die Zwölf.“
     
    Kaum war das letzte Wort im Klassenraum verhallt, gongten die Stundenkugeln. Die Kinder schlugen erleichtert die Hefte zu und freuten sich, das Gedicht über die Tugenden zwischen Büchern, Ordnern
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