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PR 2645 – Die Stadt ohne Geheimnisse

Titel: PR 2645 – Die Stadt ohne Geheimnisse
Autoren: Wim Vandemaan
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Märchen erzählt hatte – etwa das von dem Teufel, dem der Müllersbursche drei goldene Haare aus dem Bart zupfen musste –, hatte sie sich, sobald der Held Teufels Küche betrat und der Hausherr der Hölle heimkehrte, unter seinen Arm geflüchtet und, wie Routh gerührt bemerkt hatte, ein, zwei Tränen vergossen in ihrer Furcht.
    Routh hatte deswegen den Teufel und seine verräterischen Träume rasch abgehandelt, um den Müllersburschen so schnell wie möglich aus der Küche zu retten. Wie der Baum mit den goldenen Äpfeln geheilt wurde, wie es kam, dass im Brunnen der Wein wieder floss, wie der ewige Fährmann endlich den Stab übergeben konnte an den missgelaunten, menschenfeindlichen König – das hatte Anicee immer beruhigt, und meist war sie am Ende des Märchens mit einem leisen, erleichterten Seufzen eingeschlafen.
    In ihrer Angst war Anicee Routh immer besonders nah gerückt, näher als ihrer Mutter, die ihr aus dieser grauenvoll pädagogisch wertvollen Literatur vorlas, in der es nichts zu schaudern gab, nur unsäglich viel zu lernen.
    Irgendwann hatte Anicee ihre Angst verloren, wie Kinder ein Spielzeug verloren gaben, an dem ihnen nichts mehr lag. Routh hatte sich noch eine Weile lang dabei ertappt, wie er, kurz bevor er einschlief, die Träume des Teufels zitierte.
    An den Park schloss eine spiegelglatte Veranda an. Dahinter ragten die gläsernen Pforten eines Geschlechterturms auf, hinter denen eine weite Empfangshalle sichtbar war, jenseits derer und durch deren transparente Wand das nächste Gebäude mit seinem Foyer zu sehen war, durch dessen Wand – und immer so weiter.
    Auf der Veranda standen einige Sitz- oder Liegemöglichkeiten. Alles wirkte unglaublich rein. Kein Staub auf den Sitzflächen, keine Verunreinigung auf dem Boden, keine Pfützen, keine Blüten, kein Laub.
    Kein Tier.
    Gab es keine Kleinlebewesen, Insekten, Würmer, Spinnen oder artverwandtes Leben? Nichts, was das Territorium der Veranda erkundete?
    Oder hielten unsichtbare Kräfte diese Tiere von der Veranda fern?
    Routh schlenderte betont gelassen über die Veranda und trat näher an die Pforte. Irgendwo musste er anfangen. Er überlegte, was er wohl würde tun müssen, um hineinzugelangen.
    Er besaß keinen Schlüssel, keine Legitimation.
    Da glitten die hohen gläsernen Flügeltüren vor ihm zur Seite.
    Routh trat ein.
     
    *
     
    Schon von der Veranda aus hatte er gesehen, dass sich niemand im Foyer aufhielt. Er schaute nach oben in die schwindelerregende Höhe des Daakmoy. Über ihm musste es mehrere hundert Geschosse geben. Sie lagen alle offen vor seinen Augen. Das Glas war zugleich eingefärbt und völlig ungetrübt. Mit Mühe konnte er einige Gegenstände dem nächsthöheren Stockwerk zuordnen, einige dem darauf folgenden. Alles Weitere schien sich ineinanderzuschieben, vermischte sich, entzog sich jeder Lokalisierung.
    Routh schüttelte unwillig den Kopf. Der Anblick war sinnverwirrender als alles, was er bisher gesehen hatte. Anboleis löste sich dank seiner vollkommenen Sichtbarkeit ins Imaginäre auf.
    Er hatte Mühe, sich auf einzelne Phänomene zu konzentrieren, sie im lichtdurchfluteten Ganzen zu isolieren.
    Von der transparenten Decke hingen an ultradünnen Fäden gläserne Kugeln – oder waren sie eher birnenförmig, das breitere Ende dem Boden näher? In den Kugeln befand sich leichter glitzernder Staub, ein kristalliner Hauch, der langsam wie in einer Strömung kreiste.
    Routh entdeckte die durchsichtige Röhre eines Aufzugs. Die ihrerseits transparente Kabine stand bereit. Die Tür glitt auf, lautlos, und da auch sie aus schierem Glas war, hätte Routh die Einladung fast übersehen. Mit zwei raschen Schritten trat er ein.
    Selbstverständlich war die Bedientafel der Liftkabine mit den Hunderten winziger Sensorflächen durchscheinend. Rouths Fingerkuppen glitten über die Tasten und wählten eine, von der er meinte, sie müsste eine der mittleren Etagen bedeuten. Ohne spürbaren Ruck setzte sich die Kabine in Bewegung.
    Die Auffahrt löste einen heftigen Schwindelanfall aus. Routh lehnte sich gegen die Kabinenwand, ging dann in die Hocke und verbarg den Kopf zwischen den Knien. Die Kabine hielt an. Er stand auf und trat hinaus.
    Er hatte sich verschätzt. Der Aufzug hatte ihn nicht bis zur Mitte des Gebäudes, sondern beinahe bis in das oberste Stockwerk gebracht. Nun lag der ganze Daakmoy unter ihm, ein gläsernes, erstarrtes Meer. Routh stand still, doch ein Gefühl völliger Haltlosigkeit überkam ihn.
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