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Portrat in Sepia

Portrat in Sepia

Titel: Portrat in Sepia
Autoren: Isabel Allende
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Besuche in San Francisco tat. Diesmal jedoch reichten
seine Kräfte nicht aus, und zwei Straßen weiter mußte er eine
Mietdroschke anhalten. Mühsam kletterte er hinein, gab dem
Fahrer die Richtung an und lehnte sich schwer atmend im Sitz
zurück. Schon vor einem Jahr hatten die Symptome begonnen,
sich bemerkbar zu machen, aber in den letzten Wochen hatten
sie sich verschärft; die Beine wollten ihn kaum tragen, und der
Kopf war ihm wie vernebelt, er mußte ständig gegen die
Versuchung ankämpfen, sich der wattigen Gleichgültigkeit zu
ergeben, die sein Gemüt zu übermannen drohte. Seine
Schwester Rose hatte als erste bemerkt, daß etwas nicht
stimmte, als er noch gar keine Schmerzen hatte. Er dachte mit
einem Lächeln an sie: Rose war der Mensch, der ihm am
nächsten stand und den er am meisten liebte, der Polarstern
seines Wanderlebens, wirklichkeitsbewußter in ihrer Zuneigung
als seine Tochter Eliza oder eine der Frauen, die er auf seiner
langen Reise von Hafen zu Hafen umarmte. Rose Sommers
hatte ihre Jugend bei ihrem älteren Bruder Jeremy in Chile
verbracht, aber als er gestorben war, kehrte sie nach England
zurück, alt werden wollte sie doch lieber im eigenen Land. Sie
wohnte in London in einem kleinen Haus nur wenige Straßen
von den Theatern und der Oper entfernt; es war ein etwas
heruntergekommenes Viertel, in dem sie behaglich und ganz
nach ihren Wünschen leben konnte. Sie war nicht länger die
fürsorgliche Haushälterin ihres Bruders Jeremy, jetzt konnte sie
ihrer exzentrischen Ader freien Lauf lassen. Sie kleidete sich
gern als aus der Mode geratene Schauspielerin, um im Savoy
Tee zu trinken, oder als russische Gräfin, wenn sie mit ihrem
Hund spazierenging, sie war die Freundin von Bettlern und
Straßenmusikanten und gab ihr Geld für wohltätige Zwecke
oder unnütze Spielereien aus. »Nichts macht so frei wie das
Alter«, sagte sie und zählte glücklich ihre Falten. »Es ist nicht
das Alter, Schwester, sondern die Finanzen, die du dir mit deiner
Feder erarbeitet hast«, entgegnete John Sommers. Diese ehrbare
weißhaarige alte Jungfer hatte ein kleines Vermögen mit dem
Schreiben unanständiger Bücher gemacht. Das Putzigste daran
war, dachte der Kapitän, daß Rose gerade jetzt, wo sie sich nicht
mehr verstecken mußte wie seinerzeit, als sie in Bruder Jeremys
Schatten lebte, die erotischen Geschichten aufgegeben hatte und
ganz darin aufging, romantische Romane zu verfassen, und das
in einem atemberaubenden Tempo und immer mit einem
außerordentlichen Erfolg. Es gab keine Englisch sprechende
Frau, Königin Victoria eingeschlossen, die nicht mindestens
einen Roman von Dame Rose Sommers gelesen hätte. Der
Adelstitel krönte nur eine Stellung, die Rose sich schon vor
Jahren erobert hatte. Wenn Königin Victoria auch nur geahnt
hätte, daß ihre Lieblingsautorin, der sie persönlich den Titel
Dame verliehen hatte, verantwortlich war für eine umfassende
Sammlung unanständiger, mit Eine Anonyme Dame firmierter
Literatur, sie wäre auf der Stelle ohnmächtig geworden. Der
Kapitän hatte die Pornographie köstlich gefunden, aber diese
neuen Liebesgeschichten waren Mist. Jahrelang hatte er sich
damit befaßt, die verbotenen Bücher zu verbreiten, die Rose vor
der Nase ihres älteren Bruders verfertigte - und Jeremy starb
zutiefst überzeugt, daß sie eine tugendhafte Lady sei und nur die
eine Aufgabe gekannt habe, ihm das Leben angenehm zu
machen. »Gib auf dich acht, John, schau, du kannst mich doch
nicht allein lassen auf dieser Welt! Du magerst immer mehr ab,
und eine Farbe hast du, also die ist schon sehr merkwürdig«,
hatte Rose dem Kapitän täglich vorgehalten, als er sie in London
besuchte. Seither verwandelte eine erbarmungslose
Metamorphose ihn nach und nach in eine Eidechse.
    Tao Chi’en hatte eben seine Akupunktur nadeln aus den Ohren
und Armen eines Patienten gezogen, als sein Assistent ihm
meldete, sein Schwiegervater sei gekommen. Der zhong yi legte
die goldenen Nadeln sorgfältig in reinen Alkohol, wusch sich
die Hände, zog sein Jackett an und ging hinaus, um den
Besucher zu empfangen. Er war ein wenig verwundert, weil
Eliza ihm nicht mitgeteilt hatte, daß ihr Vater heute kommen
werde. Die Familie erwartete ihn immer sehnsüchtig, vor allem
die Kinder, die nicht müde wurden, seine exotischen Mitbringsel
zu bewundern und den Geschichten dieses fabelhaften
Großvaters über Seeungeheuer und malaiische Piraten zu
lauschen.
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