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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot
Autoren: Patrick Tschan
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Pflicht, diese Mixtur aus ‚das tut man nicht und dies tut man nicht‘ und ‚was die Nachbarn darüber denken könnten‘ und ‚Gott sieht alles‘, die einen umklammert, die all die Ängste in einem füttert, nicht zu genügen, nie zu genügen, etwas falsch zu machen, gegen unsichtbare Regeln zu verstoßen, keinem Genuss frönen, dürfen und was weiß ich noch alles. Oder eben alles, was unfrei macht. Das alles merke ich bei dir nicht.“
    „Vielleicht hatte ich einfach das Glück, dass meine Eltern vor lauter Armut, Streit und Gewalt gar nie dazu kamen, mir das alles aufzupfropfen. Und dass ich von ihnen weg kam. Und auch nach der Klosterschule nur noch weg wollte. Geglaubt habe ich ihnen sowieso nichts. Im Gegenteil, damals war Gott für mich wie ein böser Vater, der tagaus, tagein nach einem Grund suchte, mich zu verprügeln. Ich wollte immer woandershin, immer nach oben. Ich dachte nicht nach, sondern machte einfach. Schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen.“
    „Ich glaube, das liebt sie an dir.“
    „Ha, aber Madame ist auch nicht ohne.“
    „Eben.“
    „Sie hat sich die Freiheit auch genommen.“
    „Aber nicht so zwanglos wie du.“
    „Sie hatte auch Geld.“
    „Ja. Darum hat sie Freiheit auch nicht so oft mit Geld verwechselt wie du.“
    „Es ist aber so.“
    „Siehst du.“
    Breiter musste lachen.
    „Und du?“
    „Ich, ach weißt du, wir Juden haben die zehn Gebote und dann kommt noch die Wenigkeit von sechshundertdreizehn Gesetzen dazu. Draufgeschlagen auf die üblichen Ermahnungen von Mutter, Vater. Die Ratschläge der weitverzweigten, sich zu jedem Fest einfindenden Verwandtschaft sowie die Weisheiten und Schiedssprüche der Rabbiner. Dem allem zum Trotz habe ich doch schon einige Häutungen hinter mir. Denke ich.“
    Breiter stand auf, klopfte Mayer auf die Schultern, sagte: „Ja, es begann mit Schwielen an den Händen.“ Und machte sich daran, nach unten zu gehen und sich ein letztes Glas zu genehmigen.
    Der Winter 42/43 war weniger streng als die vorangegangenen, die Schulkinder kamen nicht in den Genuss von Heizferien, dafür wurden wieder vielerorts Skilager durchgeführt. Ganz nach dem Geschmack General Guisans.
    Charlotte flirtete von Zeit zu Zeit mit Breiter; „Jacques est très doux“, „Charlotte aime les grosses carottes“ oder „Jacques est une liqueur douce“.
    Bei „La vache de Jacques saute par dessus la lune“ konnte er sich allerdings nur schwerlich vorstellen, dass sie wusste, dass er eine Kuh mit einem Brett vor dem Kopf besaß.
    Als am 3. Februar 1943 sogar von offizieller deutscher Seite die Niederlage von Stalingrad eingestanden wurde, tanzten Breiter und Mayer spontan einen Kasatschok.
    Nach den Schneeglöckchen, den blassvioletten Krokussen kamen die ersten, noch von Elsie gepflanzten, tiefgelben Osterglocken und mit ihnen die Einkesselung und Kapitulation des deutschen Afrikakorps in Tunesien.
    Die Mauer um das stille Örtchen wurde so großzügig gebaut, dass Mayer auf die Idee kam, eine Dusche einzubauen. Breiter fand es anfänglich nicht nötig, aber Mayer nahm die Sache in die Hand, was Breiter dazu zwang, mitzuziehen und letztlich herrschte große Freude über das neue Duschzimmer. Mayer überließ diesmal Breiter die erste Dusche.
    Der Frühling rang noch ein wenig mit dem Winter um die Vorherrschaft, so dass es erst Mitte April wärmer wurde und wieder ernsthaft an das Geschäft gedacht werden konnte.
    Trotz der sich bessernden Kriegslage hielten die schweizer Behörden an den dichten Grenzen sowie an der konsequenten Rückweisung von Flüchtlingen fest.
    Auf diese Weise blieben Nachfrage und Preise stabil, und Breiter konnte sich Mitte Juni rasieren und sein Geld auf die verschiedenen Konten verteilen. Er wäre gerne wieder einmal mit seinem Traction Avant unterwegs gewesen, hätte gerne die Beschleunigung der Maschine gefühlt, die Fliehkräfte in den engen Kurven der Taubenlochschlucht und die Aufforderungen Elsies in den Ohren, das Tempo endlich zu drosseln. Aber das Fahrverbot bestand immer noch, Benzin war Mangelware.
    Am 11. Juli 1943 landeten die Alliierten in Sizilien und allgemein wurde mit einer sofortigen Invasion in Frankreich gerechnet. Sei es im Süden oder an der Westküste. Aber ein „L’heure des combats viendra“ war von Radio Londres nicht zu hören. Dafür „Charlotte aime des vaches“.
    Gut, dachte Breiter und kaufte noch zwei Jungkühe dazu. Andere Männer schenken ihren Angebeteten Juwelen und Blumen, ein Mann wie
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