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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot
Autoren: Patrick Tschan
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erste Mal, dass Mayer sah, in welcher Umgebung er seit gut anderthalb Jahren eigentlich lebte.
    Auf dem Heimweg schlossen sie Wetten ab, wie lange der Krieg noch dauern würde. Mayer veranschlagte die verbleibende Zeit auf drei Monate, worauf Breiter nur den Kopf schüttelte.
    „Wunschdenken, mein Lieber, das dauert noch mindestens ein Jahr. Der Preuße ist zäh.“
    „Aber er ist langsam müde.“
    „Ein Preuß ist nie müde, zack, zack und dreinschlagen. Und nochmals. Und nochmals. Bis die Fäuste schmerzen. Und dann nochmals und das Ganze wieder von vorn.“
    „Aber auch bei denen ist irgendwann Schluss. Wir Juden können so viel einstecken, so viel können die gar nicht austeilen.“
    „Ihr Juden?“
    „Ja, wir Juden.“
    „Ich dachte, du hättest damit nichts am Hut?“
    „Wenn man über zehn Jahre auf das reduziert wird, fährt es einem in die Knochen und bleibt stecken.“
    „Es wurde dir eingedemütigt, nicht?“
    „Ja, mehrmals.“
    „Und eingeprügelt?“
    „Ja.“
    „Ja?“
    „Ja, öfters.“
    „Mir zweieinhalb Jahre am Stück.“
    „Den Juden?“
    „Nein, rausgeprügelt. Rausgedemütigt. Den Menschen, der ich einmal war.“
    „Aber heute Nacht haben wir zurückgeschlagen.“
    „Ja, ein wenig. Wenn wir uns nicht mit der Sprengkraft verrechnet haben.“
    „Und Morgen schlagen wir wieder zurück. Mit den Amis und den Briten.“
    „Falls es klappt.“
    „Es wird, es muss klappen. Es muss zu Ende gehen. Irgendwann müssen die Guten gewinnen.“
    „Und was machst du, wenn die Guten gewonnen haben.“
    „Ich gehe zum Kreuzweg, hole mein Gold, gehe mit dir prächtig feiern und schiffe mich nach Palästina ein. Wie gesagt, der Jude steckt mir jetzt in den Knochen.“
    „Mir steckt die Kälte in den Knochen. Komm, lass uns schneller gehen.“
    Die Befreiung von Paris am 29. August 1944 hatte, außer einem üppigen Abendessen, auf das Leben von Breiter und Mayer keinen weiteren Einfluss. Die Deutschen waren immer noch auf der anderen Seite des Doubs, bewachten die Grenze, versuchten Flüchtlinge zu ergreifen, sie zu deportieren oder gleich dem KZ Natzweiler-Struthof zuzuführen.
    Auf Schweizer Seite wurde weiterhin alles unternommen, die unbefleckte Neutralität zu wahren. Mit der erneuten Mobilisierung der Schweizer Armee vom 15. Juni 1944 wurde Mayer jede Möglichkeit genommen, seine Goldbarren auszugraben, stand doch nun neben dem Stationswegkreuz ‚Weinende Frauen‘ links und rechts je ein zu allem entschlossener Soldat mit entsichertem Karabiner.
    Breiter trieb den Landkauf voran. Das Geschäft mit den Flüchtlingen war vorbei. Zumal die Behörden seit dem 12. Juli die Weisung hatten, auch Juden und Zwangsarbeiter als Flüchtlinge aufzunehmen. Was zwar nicht immer der Fall, aber für Breiter ein klares Zeichen war, seine Scherflein ins Trockene zu bringen. Er wollte so rasch wie möglich sein Geld unverrückbar anlegen, bevor der Krieg vorbei war. Er machte der Familie, die zehn Minuten Fußweg weiter südlich einen stattlichen Hof mit achtzehn Hektar Weideland besaß, ein derart unverschämtes Angebot, dass sie nicht ablehnen konnten.
    In Breiters Augen war es ein Schnäppchen, da das Land an seines grenzte, da er so ein zusammenhängendes Grundstück besaß und da er so sein Geld fest angelegt hatte, falls Mayer irgendwelche Forderungen stellen würde.
    Breiter sah angesichts des horrenden Tempos des alliierten Vorstoßes mit Bangen dem Tag der Entscheidung entgegen, Mayer hingegen war bitter enttäuscht als die französisch-amerikanischen Truppen Mitte September in Montbéliard stehen blieben. Von dort wären es keine sechzig Kilometer bis zur Schweizer Grenze bei Mariastein gewesen.
    Zur gleichen Zeit wurde in der Schweiz die Verdunkelung aufgehoben, und Breiter war auch die Befürchtungen los, sein neu erworbener Gutssitz könnte irrtümlicherweise bombardiert werden. Und als mit der Eroberung von Aachen Ende Oktober der Winter mit Vehemenz über die Freiberge hereinstürzte, war für Breiter die Goldfrage fürs Erste auf Eis gelegt.
    Mit klammen Fingern saßen Breiter und Mayer im November vor dem Radioapparat und hörten die letzte Sendung von Radio Londres. Aber sie warteten vergebens auf eine finale Botschaft von Charlotte. Die ‚Messages personnels‘ brauchte man nicht mehr.
    Das Kriegsende wurde auf den Frühling verschoben, nochmals kurz gefährdet durch die Deutsche Ardennenoffensive.
    Als dann aber die Rote Armee in Berlin stand, Goebbels sich und seine vielköpfige
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