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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot
Autoren: Patrick Tschan
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Château Léoville Barton – übrigens auch erstklassig, Vittorio.“
    „Deuxième Grand Cru Classé, Bub, Deuxième Grand Cru Classé.“
    „Sie hat mir sogar abgenommen, dass ihr Vermögensverwalter oft in Basel sei und die Marotte habe, immer ein 5-Franken-Stück für die Bediensteten unter seinen Teller zu legen. Franco vom Suvretta, sie wohnt ja dort, hat mir den Tipp gegeben. Er habe sie und einen älteren Mann bedient. Aus den Gesprächsfetzen, die er aufgeschnappt hatte, nahm er an, dass der Mann ihr Vermögensverwalter sein müsse. Auf alle Fälle hat der ein 5-Franken-Stück unter den Teller gelegt. Gut, nicht?“
    „Madonna, Bub, von wo hast du Uhr?“
    „Uhr: Zimmer 412, Schuhe: 316, muss ich noch zurückstellen. Wann macht Ivan seine Runde? Viertel vor sechs? Richtig?“
    „Bub, diese …“
    „… Charakter. Ich weiß. Viertel vor sechs?“
    „Viertel vor vier.“
    „Und jetzt ist … zwanzig vor zwei. Hat die Uhr einen Wecker?“ Jack betrachtete die Uhr genau, zog das Krönchen heraus, hielt die Uhr ans Ohr, horchte in sie hinein, nahm sie wieder vom Ohr weg und stieß das Krönchen zurück.
    „Hat sie nicht. Hast du einen Wecker, Vittorio?“
    „Habe in bald dreiundvierzig Jahren hier noch nie verschlafen. Habe Wecker. Wie bringst du Uhr zurück?“
    „Réception, habe sie vor Zimmer 412 gefunden. Stelle den Wecker bitte auf halb vier.“
    „Mein Siegelring?“
    „Hier.“ Jack zog den schweren Ring vom Finger und gab ihn Vittorio zurück.
    „Hat sie etwas gesagt wegen den Ring?“
    Jack log: „Ja, sie hat ihn bemerkt, mir abgezogen, sich selbst über den Finger gestreift und über das Wappen gestaunt.“
    Vittorios Augen leuchteten: „Und, was hast du gesagt?“
    „Er sei vom italienischen Zweig meiner Familie, dem Marchese Ambrogio Antonio Scurumpi Cravelli aus Canelli. Perfekte Arbeit, wahrscheinlich 14. Jahrhundert, da Cravelli im 15. Jahrhundert lebte.“
    „Marchese Ambrogio Antonio Scarampi Crivelli, Bub, lebte im 17., Ring wahrscheinlich 16. Jahrhundert!“
    „14., 15., 16. Jahrhundert, ist doch wurst.“
    „Nein, gofferdammi, ist keine salsiccia. War wichtiger Krieg dort, gewonnen gegen Spanier, 1613. Wird jedes Jahr gefeiert, kann sie nachprüfen.“
    „Wird sie eh nicht mehr.“
    „Warum auch eine Russin, Bub?“
    „Sie ist nicht adlig, aber hat Geld, Vittorio, Geld, Geld, und nochmals Geld.“
    „Kein Adel?“
    „Kein Adel! Bastard von russischem Baron, deutscher Herkunft. Hatte riesiges Gut, irgendwo im Süden, Schwarzes Meer, mit Millionen von Pferden und Schafen und Rindern. Und sogar Antilopen, Gnus und Zebras. Die Zebras versuchte er mit Eseln und Pferden zu kreuzen. Ergab aber nichts. Die Familie hatte über sechzig Jahre lang die russische Armee mit Pferden, Hafer, Wolle und Fleisch bis zum letzten Tag des Zaren ausgerüstet. Stell dir mal vor, wie viel Rubel da reingerollt sind. Klar hat ihn Lenin zuoberst auf die Liste gesetzt. Er konnte im letzten Moment noch abhauen. Das Vermögen hatte er über einen Schweizer schon vorher außer Landes gebracht. Sagt sie.“
    „Und sie?“
    „Entsprang seiner einzigen, wahren Liebe, sagt sie. Hat ihr in Genf ein Konto eingerichtet, von dem du und ich und unsere Kinder und Kindeskinder sorgenfrei leben könnten.“
    „Und ihre Mutter?“
    „Bei der Geburt gestorben. Sie haben sie zur Mutter des Barons nach Petersburg gebracht. So war sie weg vom Land, weg von seiner Ehefrau und weg von seinen Söhnen. Natürlich beste Schulen, Französisch, Englisch und Deutsch, Reit-, Tanz- und sogar Fechtunterricht. Petersburg sei ein Paradies gewesen, bis die Bolschewiken kamen, sagt sie.“
    „Sie sagt viel.“
    „Vittorio, sie hat viel zu sagen: Zar, Krieg, Revolution, Bastard, da weg, dort weg, Vater weg, Mutter weg. Da können der Jack aus dem Toggenburg mit seinen Dorfoberen und der Vittorio aus der Alta Langhe mit seinem Kasperl-König nicht mithalten.“
    „Beleidige unseren König nicht, Bub. Er mag klein sein, aber kein Arlecchino. Ist Piemontese, verstehst du, Piemontese. Darum ich Vittorio.“
    „Tschuldigung.“
    „Gut, Bub, und wie pitsch, patsch?“
    „So gegen Mitternacht, ich bei Whisky und Zigarre …“
    „Single Malt?“
    „Single Malt.“
    „Gut, Bub, gut Bub.“
    „Also ich bei Single Malt und Havanna, sie bei Wodka und Zigarette, immer wieder an mich anlehnend, ab und zu ihren Arm um meine Schulter legend, kurz vor dem ersten Kuss, Vittorio, kurz vor dem ersten Kuss, schrie einer: ‚Köbi,
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