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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star
Autoren: Martin Cruz Smith
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Verfallserscheinungen zurückgekehrt. Doch sobald die Leichenstarre von ihr wich, erschlaffte alles Fleisch über den Knochen: die Brüste sackten auf die Rippen hinab, Mund und Kiefer lockerten sich, die Augen lagen eingesunken unter halb geschlossenen Lidern, die Haut zeigte eine phosphoreszierende Blässe, mit blauen Flecken gesprenkelt. Und dann der Geruch. Der Operationssaal war kein Leichenschauhaus, also auch nicht mit Formaldehyd ausgestattet, und so genügte dieser eine Leichnam, um den Raum mit einem Gestank wie von saurer Milch zu erfüllen.
    Arkadi zündete sich eine zweite Belomor an der Kippe der ersten an und sog gierig den Rauch in die Lungen. Russischer Tabak, je stärker, desto besser. Auf ein Krankenblatt zeichnete er vier Silhouetten: einen Frauenkörper von vorn, von hinten, im rechten und linken Profil.
    Sina schien im Blitzlicht von Slawas Kamera zu schweben, dann, als ihr Schatten verblaßte, senkte der Körper sich wieder auf den Tisch. Anfangs hatte der Dritte Maat sich geweigert, bei der Autopsie zugegen zu sein, doch Arkadi hatte darauf bestanden, damit Slawa, dessen Feindseligkeit er jetzt schon spürte, später nicht behaupten konnte, der Befund sei manipuliert oder unvollständig. Falls dies seinerseits ein letztes Aufblitzen berufsmäßigen Stolzes bedeutete, so wußte Arkadi nicht, ob er über sich lachen oder verärgert sein sollte. Die Abenteuer eines Fischputzers! Im Moment schoß Slawa ein Foto nach dem anderen, wie ein kampferprobter Bildreporter der Tass. Arkadi fühlte sich elend.
    »Alles in allem«, sagte Dr. Wainu gerade, »ist diese Reise für mich eine große Enttäuschung gewesen. Auf dem Festland hatte ich einen gutgehenden Handel mit Sedativa. Walerianka, Pentalginum, sogar ausländische Präparate. Aber die Frauen auf diesem Schiff sind die reinsten Amazonen. Nicht einmal Abtreibungen sind gefragt.«
    Wainu war ein junger Mann, ein Schwindsüchtiger, der seine Patienten in der Regel in Freizeitanzug und Slippern empfing, aber für die Autopsie hatte er einen weißen Laborkittel mit tintenbekleckster Tasche übergestreift. Er war Kettenraucher, und auch jetzt paffte er eine Zigarette nach der anderen, versetzt mit Antistormin gegen Seekrankheit. Er hielt die Zigarette zwischen kleinem und Ringfinger, so daß seine Hand jedesmal, wenn er einen Zug nahm, sein Gesicht verdeckte wie eine Maske. Auf einem Beistelltisch lag sein Operationsbesteck: Skalpelle, Winkelmesser, Klammern, eine kleine Kreissäge für Amputationen. Im Fach darunter stand eine Eisenwanne mit Sinas Kleidungsstücken.
    »Tut mir leid, daß ich mich mit der Zeit verschätzt hatte«, sagte Wainu leichthin, »aber welcher vernünftige Mensch würde annehmen, daß ein Trawler sie auffischt, nachdem sie schon über einen Tag im Wasser lag?«
    Arkadi versuchte, gleichzeitig zu rauchen und weiter zu zeichnen. In Moskau erledigte ein Pathologe die eigentliche Arbeit, und der jeweilige Ermittlungsbeamte schaute nur gelegentlich vorbei, um sich auf dem laufenden zu halten. Dort gab es Labors, ganze Teams von Gerichtsmedizinern, eben einen professionellen Apparat, und über allem waltete die beruhigende Hand der Routine. In den letzten Jahren hatte er einen gewissen Trost in dem Gedanken gefunden, daß er nie wieder mit Opfern zu tun haben würde. Und bestimmt nicht mit einem Mädchen, das man aus dem Meer gefischt hatte. Über dem Geruch des Todes lagerte die scharfe Ausdünstung des Salzwassers. Es war der gleiche Geruch, den er tagein, tagaus in der Fabrik einatmete und den nun dieses Mädchen verströmte; ihr Haar war verfilzt, Arme, Beine und Brust waren mit purpurnen Flecken überzogen.
    »Außerdem ist es immer riskant, den Zeitpunkt des Todes nach der Leichenstarre zu beurteilen, besonders bei so niedrigen Temperaturen wie hier«, fuhr Wainu fort. »Schließlich ist die Totenstarre nichts weiter als eine Kontraktion, hervorgerufen durch chemische Reaktionen nach dem Exitus. Wenn man ein Fischfilet zerlegt, bevor die Leichenstarre eintritt, schrumpft das Fleisch trotzdem und wird zäh, wußten Sie das?«
    Arkadi fiel der Stift aus der Hand. Als er sich danach bückte, stieß er mit dem Stiefel dagegen, und er rollte unter den Tisch.
    »Man sollte meinen, das wäre Ihre erste Autopsie.« Slawa hob den Stift auf und analysierte mit kühlem Blick den Tisch. Dann wandte er sich an den Arzt. »Sie scheint ziemlich übel zugerichtet. Glauben Sie, daß sie gegen die Schiffsschraube geschlagen ist?«
    »Nein,
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