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Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)

Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)

Titel: Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
Autoren: Eric T. Hansen
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natürlich eine Flut von Klagen aus, die Brinkley über die nächsten Jahre an die drei Millionen Dollar kosteten. Er verlor seinen Radiosender, wurde von Bundespolizei und Finanzamt in die Mangel genommen und schließlich krank. Sein letzter Herzinfarkt brachte ihn um. War auch besser so: Er hätte die Krankenhausrechnung sowieso nicht mehr bezahlen können.
    Die inoffizielle Schutzheilige aller unserer Spinner heißt allerdings Annie Edson Taylor.
    Der Niagara River fließt vom Eriesee in den USA bis zum Ontariosee in Kanada und stürzt an der Grenze mit rund 2.800 Kubikmetern Wasser pro Sekunde über gleich drei Fälle in die Tiefe. Von diesen sind die Horseshoe Falls auf kanadischer Seite mit 53 Metern die höchsten und imposantesten – und aus irgendeinem mysteriösen Grund übt dieser Wasserfall auf uns Amerikaner eine magische Anziehungskraft aus. Er ist unser Mount Everest: Er ist da, also müssen wir ihn besiegen.
    Annie Edson Taylors Leben verlief als Lehrerin in recht geregelten Bahnen. Dann starb ihr erstes Kind als Säugling, und ihr Mann fiel im Bürgerkrieg. Sie driftete von Lehrerjob zu Lehrerjob, mäanderte von Texas bis nach Mexico City und zurück, machte ein Tanzstudio auf, gab Musikunterricht. Irgendwann muss ihr gedämmert haben, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Vielleicht erhoffte sie sich Geld und Ruhm. Vielleicht versprach sie sich innere Zufriedenheit. Wir wissen nicht, was ihr genaues Problem war, aber wir kennen ihre Lösung: Sie würde der erste Mensch sein, der in einem Holzfass die Niagarafälle hinabstürzt.
    Annie ließ ein besonderes Fass aus Eichenholz und Eisen bauen und polsterte es mit einer Matratze aus. Als es endlich fertig war, erklärte sich ihre Katze bereit, die Testfahrt zu übernehmen. Sie überlebte den Sturz. Zwei Tage später, am Morgen des 24. Oktober 1901, stieg auch Annie mit einem Kopfkissen in Form eines Herzchens in das Fass. Es war ihr 63. Geburtstag. Ein Ruderboot zog sie hinaus aufs Wasser, dort wurde das Fass vom Boot gelöst.
    Zwanzig Minuten später fischten die Retter das Fass unten aus dem Wasser und brachen es auf: Annie Edson Taylor war noch drin. Blutig zwar von einem Schnitt an der Stirn, aber sie lebte.
    Annie starb erst zwanzig Jahre später – mittellos, aber am richtigen Ort: in Lockport, im Bundesstaat New York, gleich um die Ecke der Niagarafälle. Das machte es möglich, dass einige nette Leute sie auf dem »Cemetery of Daredevils«, dem »Friedhof der Waghalsigen«, direkt an den Fällen beerdigen konnten, wo eine Handvoll ihresgleichen liegt. Heute kennt kaum noch ein Amerikaner ihren Namen, aber ein jeder kennt die Redewendung: »Going over the Niagara Falls in a barrel.«
    Das ist unser geflügeltes Wort für eine Verrücktheit, die sinnlos, blöd, selbstmörderisch gefährlich – aber zugleich auch irgendwie einmalig cool und mutig ist.
    Wenn ein Angestellter seinen gut dotierten Job hinschmeißt, um in seiner Garage an einem fliegenden Auto zu basteln, oder eine Hausfrau nach 20 Jahren Ehe, vier Kindern und ohne berufliche Aussichten trotzdem die Scheidung einreicht … dann darf sie oder er mit Recht behaupten: »Es war, als hätte ich mich in einem Fass die Niagarafälle hinabgestürzt.«
    Seit Annie Edson Taylor haben das rund 20 weitere so genannte »daredevils« tatsächlich getan – in Fässern aus Holz, Stahl und Plastik, in Gummibooten, in einem mannshohen Ball aus Gummi, in Alu-Booten, einer Kapsel aus LKW -Reifenschläuchen, einem Kajak, auf Wasserskiern oder auch nur in einem Badeanzug und sonst gar nichts. Und ihre Überlebensrate ist erstaunlich gut: Etwa drei Viertel von ihnen schafften es.
    Irgendetwas in unserem tiefsten Inneren flüstert uns ein, es sei erlaubt, ja notwendig, ach was, geradezu patriotische Pflicht zu spinnen – und wir nehmen die Einladung gerne an. Von Kindheit an werden wir heimgesucht von einem unruhigen, treibenden Gefühl – der Sehnsucht, etwas Außergewöhnliches, noch nie Dagewesenes, ganz und gar Unerhörtes zu vollbringen. Wir wollen zeigen, wer wir sind, beweisen, dass wir da sind. Wir sind ständig auf der Suche nach einer neuen Idee, die noch keiner vor uns hatte. Wir müssen Kontra geben, wo es nicht notwendig ist, wir müssen etwas bauen, etwas zerstören, müssen auffallen, selbst wenn das bedeutet, dass wir nur als Spinner auffallen.
    Amerika ist nichts anderes als ein riesiges Spielfeld, auf dem jeder mit jedem konkurriert. Wettbewerb gehört zur amerikanischen DNA wie
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