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Piss off! Ein Engel zum Fürchten (German Edition)

Piss off! Ein Engel zum Fürchten (German Edition)

Titel: Piss off! Ein Engel zum Fürchten (German Edition)
Autoren: Laabs Kowalski
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zusammenfassen. Sie hatte einen anderen Mann geheiratet, mit dem sie laut seiner Oma in Schwerte wohnte, und wieder begonnen, als Verkäuferin zu arbeiten, so wie sie es getan hatte, ehe sie Walter, seinen Vater, kennen lernte und bald darauf schwanger geworden war. Es wurde zwar nie ausgesprochen, aber dennoch spürte Paul, dass seine Mutter als schlecht galt, als wäre sie eine Trinkerin oder eine Frau, die viele Männer hatte und deshalb Verachtung verdiente. War sie es? Paul wusste es nicht und wollte es nicht wissen. Der Gedanke, sie könnte es sein, bereitete ihm Unbehagen, und so hatte er schließlich aufgehört, nach seiner Mutter zu fragen, so wie er aufgehört hatte, sich seinen Vater als einen Menschen aus Fleisch und Blut vorzustellen. Sein Vater, das waren die Postkarten, die er in einer Schublade seines Schreibtischs verwahrte. Seine Familie waren seine Oma, Georg und die anderen Onkel – Willy, August und Jürgen – mit ihren Frauen und Kindern, die allsonntäglich zur Kaffeezeit durch die Wohnungstür stürmten und das sonst nur abends benutzte Wohnzimmer mit Lärmen erfüllten, mit Kindergeschrei, anzüglichen Witzen und lautstarken Zusammenfassungen über die verstrichene Woche. Dazwischen vereinzelte Aufforderungen oder Kommandos: „Matthias, lass endlich deine kleine Schwester in Ruhe.” – „Also, Kinder, nun geht doch mal zum Spielen nach draußen! Die Sonne scheint.” – „Paßt auf Christian auf, wenn ihr auf den Spielplatz geht, und kommt nicht wieder dreckig wie die Schweine zurück. Ihr sollt die Sachen morgen noch tragen.”
    Aus Omas Erzählungen wusste Paul, dass die Familie erst nach dem Krieg in Dortmund ansässig wurde, wo die Zechen und Stahlwerke Arbeiter suchten. Ursprünglich waren die Seißlers in Deutsch-Pribbernow, im jetzigen Polen,  zu Hause gewesen, wo der Urgroßvater, Viktor Seißler, in den ausgedehnten Wäldern als Haumeister gearbeitet hatte. Die Wirren zu Ende des Krieges hatten die Seißlers zunächst nach Lehe in Schleswig-Holstein geführt, wo sie in einem Flüchtlingslager Aufnahme fanden. Sechs Jahre alt war Pauls Vater zu dieser Zeit, das Ergebnis einer flüchtigen Liaison zwischen Friederike Seißler, Pauls Oma, und einem Maurergesellen. Später hatte seine Großmutter einen anderen jungen Mann kennen gelernt, dem sie nach Dortmund gefolgt war und den sie geheiratet hatte. Er war der Vater von Willy, August, Jürgen und Georg, die wie er den Namen Richter trugen. Nur Pauls Vater hieß weiterhin Seißler und hatte den Namen auf seinen Sohn übertragen.
    Pauls Augen suchten das scharfkantige Stück Metall, das am Fuß des Schreibtischs lehnte und vor langer Zeit Teil des Mantels einer deutschen Bombe gewesen war. Der tellergroße Splitter war dicht neben seiner Oma in den Boden gerast. Sie hatte es aufbewahrt und auf der großen Flucht mit sich geführt. „Das Ding erinnert mich daran, dass es der liebe Gott gutgemeint hat mit mir”, hatte sie ihm erklärt. „Da fehlte nicht viel, und ich wär’ hops gewesen.”    
    Er hatte den Bombensplitter in sein Zimmer getragen, die scharfen, rostigen Kanten befühlt und sich dabei in den Finger geschnitten. Onkel Georg musste mit seinem Neffen zu Dr. Wendler gehen, von dem Paul eine Tetanus-Spritze bekam. Der dunkle Blutfleck an der scharf gezackten Kante war noch immer zu sehen. Manchmal versuchte Paul, anhand des Splitters die Form der Bombe zu rekonstruieren, aber er war niemals sicher, ob die Zeichnungen, die er, über seinen Schreibtisch gebeugt, anfertigte, der Wirklichkeit entsprachen. Alles, was er als Anhaltspunkt hatte, war dieses einzige Bruchstück. Eine dunkle Faszination ging von ihm aus.
    Er rollte sich auf den Bauch und schloss die Augen. In Momenten wie diesen fühlte er sich wie eine Waise, die zwanghaft das Dunkel der eigenen Vergangenheit zu lüften versucht. Seine eigene, gerade erst achtjährige Geschichte erschien ihm fremd und lückenhaft, unvollständig wie das zerfranste Stück kalten Metalls, und er drehte sich auf den Rücken zurück, um sich, wie so oft, vorzustellen, dass er weder Arme noch Beine besaß, ein menschlicher Rumpf, dem es nicht gelang, dieses Bett aus eigener Kraft zu verlassen. Nachts, wenn er träumte, erschien ihm manchmal eine hochgewachsene, wunderschöne Frau mit bleicher Haut und weißblondem Haar. Sie näherte sich ihm, während er in der Mitte einer Wiese stand und seine Hände über die Augen legte, um sie vor der gleißenden Sonne zu schützen. Die
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