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 Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx
Autoren: Stanislaw Lem
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suchte? Daß ihm die Entlassung drohte? Woher denn! Dieser anonyme Brief war eine völlig andere Geschichte, die eines anderen Menschen – nämlich Cornelius Craigs –, hier war es der Vor-, dort der Familienname. (Habe ich sie verwechselt? Ja. Aber der anonyme Brief wollte nicht verschwinden. Seltsam, er konnte sich nicht von diesem Begriff befreien. Je energischer er ihn fortschob, desto hartnäckiger kam er wieder.) Er saß zusammengesunken, im Kopf ein einziger Brei. Der anonyme Brief ... Jetzt war er schon fast sicher, daß dieser Begriff einen anderen verdeckte. So etwas kam vor. Ein falsches Signal drängte sich vor ein richtiges, und es war nicht möglich, es wegzuschieben. Der anonyme Brief.
    Er stand auf. Ihm war eingefallen, daß zwischen den Marsbüchern auf dem Regal ein Lexikon stand. Er schlug es auf gut Glück bei »AN« auf. Ana... Anakantik. Anaklastik. Anakonda. Anakreontiker. Anakrusis. Analekten (wie viele Wörter man doch nicht kannte). Analyse. Ananas. Ananke (grch.): Schicksalsgöttin. Das ...? Aber was hatte eine Göttin ...? Übertr.: Zwang.
    Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er sah ein weißes Sprechzimmer vor sich, den Rücken des telefonierenden Arztes, ein offenes Fenster und Papiere auf dem Tisch, die von der Zugluft durcheinandergeweht wurden. Eine gewöhnliche ärztliche Untersuchung. Er versuchte nicht einmal, den maschinengeschriebenen Text zu lesen, aber seine Augen fingen die Buchstaben von selbst auf; schon als kleiner Junge hatte er eifrig gelernt, Spiegelschrift zu lesen. »Warren Cornelius. Diagnose: ANANKASTISCHES SYNDROM.« Der Arzt bemerkte die Unordnung auf dem Tisch und verstaute die Papiere in seiner Aktenmappe. War er nicht neugierig gewesen, was diese Diagnose bedeutete? Das wohl, aber er hatte gespürt, daß es sich nicht gehörte, danach zu fragen – und dann hatte er es vergessen. Wie lange war das her? Mindestens sechs Jahre.
    Er legte das Lexikon beiseite, erregt, innerlich angeheizt, aber zugleich enttäuscht. Ananke – Zwang, also vermutlich so etwas wie Zwangsneurose.
    Zwangsneurose! Schon als Junge hatte er darüber gelesen, was er nur auftreiben konnte, es gab da so einen Fall in der Familie ... er wollte wissen, was das bedeutete, und sein Gedächtnis lieferte schließlich die Erklärungen, wenn auch nicht ohne Widerstand. Man konnte sagen, was man wollte, aber sein Gedächtnis war noch in Ordnung. In kurzen Aufblendungen kamen die Sätze aus der medizinischen Enzyklopädie wieder und beleuchteten schlagartig Cornelius’ Persönlichkeit. Jetzt sah er ihn völlig anders als bisher. Es war ein beschämender und zugleich kläglicher Anblick. Deshalb also wusch er sich zwanzigmal am Tag die Hände und mußte den Fliegen nachjagen, deshalb bekam er einen Wutanfall, wenn ihm ein Lesezeichen abhanden kam, und deshalb hielt er sein Handtuch unter Verschluß und konnte auf keinem fremden Stuhl sitzen ... Eine Zwangshandlung gebar die nächste, so daß er ganz von der zahlreichen Nachkommenschaft umwimmelt war und sich zum Gespött machte. Das war am Ende auch den Ärzten nicht entgangen. Sie hatten ihn von Bord genommen. Als Pirx sein Gedächtnis anstrengte, glaubte er, am unteren Rand der Seite ein gesperrt geschriebenes Wort gelesen zu haben: fluguntauglich. Und weil der Psychiater nichts von Computern verstand, hatte er zugelassen, daß Cornelius bei Syntronics arbeitete. Sicher hatte er angenommen, daß das genau der richtige Posten für so einen Kleinigkeitskrämer war. Was für ein Betätigungsfeld für Pedanterie! Das mußte Cornelius wieder Mut gemacht haben. Eine nützliche Arbeit, und was am wichtigsten war – sie stand in engstem Zusammenhang mit der Weltraumfahrt ...
    Er lag da und starrte an die Decke und brauchte keine sonderliche Mühe aufzuwenden, um sich Cornelius bei Syntronics vorzustellen. Was machte er dort? Er kontrollierte die Simulatoren, die die Belastungsproben mit den Raumschiffcomputern durchführten. Das heißt, er machte ihnen die Arbeit schwer, und er war in seinem Element, wenn er jemanden Mores lehren konnte. Auf nichts verstand er sich besser. Dieser Mann mußte in ständiger Verzweiflung gelebt haben, weil man ihn vielleicht für verrückt hielt, was er nicht war. In wirklich kritischen Situationen verlor er nie den Kopf. Er war mutig, aber sein Mut für den Alltag war allmählich von den Zwangsvorstellungen aufgefressen worden. Zwischen der Besatzung und seinem verdrehten Innenleben mußte er sich gefühlt haben wie
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