Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
Es half nichts, sich weiter in den Schatten zu setzen, und auch an der Sonnenbrille lag es nicht. Dabei war das Erlernen einer fremden Sprache etwas, was er beherrschte. Eigentlich das einzige. Auch war es das einzige, was ihn wirklich zu fesseln vermochte. Bei dieser Tätigkeit hatte er das Gefühl, daß es mit seinem Leben voranging und er sich entwickelte. Und manchmal, wenn sich ein fremder Satz, ein bisher unzugänglicher Text plötzlich erschloß, war ihm, als könne er einen Hauch von Gegenwart erhaschen.
    Wenn er nur etwas davon auch in der wissenschaftlichen Arbeit spüren könnte. Es kam ihm seltsam vor, aber er wußte nicht mehr, ob es jemals so gewesen war. Jedenfalls lag es dann weit zurück, in einer Zeit, als er die Lähmung, die ihn nun schon so lange quälte, noch nicht gekannt hatte. Er hatte inzwischen das Gefühl, gar nicht mehr richtig zu wissen, wie das war: wissenschaftlich zu arbeiten. Es war keine Schreibhemmung, da war er sich sicher. Das hatte er nie gekannt, und die Fähigkeit zur flüssigen, treffenden, gelegentlich brillanten Formulierung stand ihm, das spürte er, auch jetzt noch zur Verfügung. Es war etwas anderes, etwas im Grunde viel Einfacheres und zugleich etwas, was er nicht hätte erklären können, sich selbst nicht und noch viel weniger anderen, vor allem nicht Kollegen: Es war ihm der Glaube an die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Tätigkeit abhanden gekommen-dieser Glaube, der ihn früher in Bewegung gesetzt hatte, durch den die tägliche Disziplin möglich geworden war und der die damit verbundenen Entsagungen hatte sinnvoll erscheinen lassen.
    Es war nicht durch eine Schlußfolgerung oder Bilanzierung, daß ihm dieser Glaube verlorengegangen war, und der Verlust hatte nicht die Form einer inneren Feststellung. Er fand einfach nicht mehr in die Konzentration zurück, in das Gefühl der Ausschließlichkeit, aus dem heraus seine wissenschaftlichen Arbeiten bisher entstanden waren. Das bedeutete nicht, daß er nun die Unwichtigkeit seiner Forschungen, oder gar der Forschung überhaupt, verkündet hätte als ein weltanschauliches Urteil. Nur fand er den Weg zum Schreibtisch immer seltener. Die Blicke aus dem Fenster wurden immer länger, der teure Stuhl schien von Monat zu Monat unbequemer zu werden, und immer öfter kamen ihm die Bücher auf der großen Schreibtischplatte wie plumpe Gegenstände vor, welche die beruhigende Leere störten.
    Seit das so geworden war, blickte er auf die Wissenschaft wie durch eine Wand aus Glas, die ihn zu einem bloßen Zuschauer machte. Etwas wissenschaftlich herausfinden: Er hatte einfach keinerlei Bedürfnis mehr danach. Das Interesse am methodischen Untersuchen, am Analysieren und Entwickeln von Theorien, bisher eine Konstante, ein unbefragtes, selbstverständliches Element in seinem Leben und in gewisser Weise dessen Gravitationszentrum – dieses Interesse war ihm ganz und gar abhanden gekommen, und zwar so vollständig, daß er nicht mehr sicher war zu verstehen, wie das einmal hatte anders sein können. Wenn jemand von einer neuen Idee sprach, einem ersten Einfall, so konnte er manchmal noch zuhören; aber nur für kurze Zeit, und die Ausarbeitung interessierte ihn dann schon nicht mehr, kam ihm vor wie vergeudete Zeit.
    Manchmal versuchte er sich einzureden, daß alles an jenem klaren, weißen, schrecklichen Tag im Januar begonnen hatte, als er Agnes zum letztenmal gesehen hatte, so entsetzlich, so unwiderruflich still. Er hätte sich dann als einen sehen können, der immer noch unter Schock stand, als einen nur langsam Genesenden. Das hätte der Sache die Spitze genommen.
    Aber es stimmte nicht. Zwar stellte er verwundert und auch beunruhigt fest, daß er vergessen hatte, wann genau es angefangen hatte. Aber es war lange davor gewesen, da war er sich ganz sicher. Es waren kleine Veränderungen in der Art gewesen, wie er gefühlsmäßig auf die Dinge reagiert hatte, die mit dem Beruf zusammenhingen, Gefühlsschattierungen, winzige Änderungen in der Tönung, die sich über die Monate und Jahre zu etwas Einschneidendem aufsummiert hatten, das dann eines Tages in aller Klarheit ins Bewußtsein getreten war. Der Beginn lag in einer Zeit, als er, von außen betrachtet, auf der Höhe seiner Produktivität war und niemand auf die Idee gekommen wäre, daß hinter dieser Fassade etwas zu bröckeln begann und auf lautlose Weise zerfiel.
    Er hatte zu vergessen begonnen. Nicht so, daß es einem anderen aufgefallen wäre. Es gab keine Lücken im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher