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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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alles einstürzte, war es zu spät gewesen, die Dinge rückgängig zu machen.
    Agnes hatte recht gehabt: Das Blau des Himmels war hier auf seltsame Weise durchsichtig, als gäbe es im Hintergrund zusätzlich zur Sonne noch eine weitere, unsichtbare Beleuchtungsquelle. Der Raum, der die Bucht überwölbte, bekam dadurch eine verhüllte, geheimnisvolle Tiefe, eine Tiefe, die etwas versprach. Kennengelernt hatte er dieses Blau und dieses Licht, als die Eltern damals mit ihm nach Italien fuhren. Er war erst dreizehn und hatte noch keine Worte dafür, aber die südlichen Farben waren tief in ihn hineingesunken – wie tief, das merkte er erst richtig, als der Zug bei Göschenen den Gotthard-Tunnel verließ und die Welt aussah wie ein Bild in Grautönen. Seitdem war das südliche Licht für ihn das Ferienlicht, das Licht, welches das Leben war im Unterschied zur Arbeit. Das Licht der Gegenwart. Aber es war eine Gegenwart, die stets nur eine mögliche Gegenwart blieb, eine, die man leben könnte, wenn man nicht nur in den Ferien hier wäre. Jedesmal, wenn er es sah, kam es ihm vor, als würde ihm dieses Licht nur gezeigt, um ihm vor Augen zu führen, daß er sein wirkliches, alltägliches Leben nicht in der Gegenwart lebte. Und weil es immer nur das Ferienlicht blieb, verwob sich sein Anblick mit der Empfindung von etwas Vorübergehendem, von etwas, das nicht festzuhalten war und das einem, kaum war es in Reichweite gekommen, auch schon wieder genommen wurde. Immer mehr war es für ihn zu einem Licht des Abschieds geworden, und manchmal haßte er es, weil es ihm eine Gegenwart vorgaukelte, die es vielleicht gar nicht gab.
    Er starrte mit schmerzenden Augen auf die Lichtfläche hinaus, die jetzt von einem Motorboot durchschnitten wurde. Worauf es ankäme, dachte er, wäre dies: den Schein dieses Lichts alles sein zu lassen, die ganze Wirklichkeit, und nichts dahinter zu suchen. Das Licht nicht als ein Versprechen zu erleben, sondern als die Einlösung eines Versprechens. Als etwas, bei dem man angekommen war, nicht etwas, das immer neue Erwartungen weckte.
    Davon war er jetzt weiter entfernt denn je. Gegen seinen Willen glitt sein Blick erneut hinüber zur Veranda. Die rötlich glänzenden Tische mit den geschwungenen Beinen waren in der Form eines Hufeisens angeordnet, und an die Stirnseite hatte Signora Morelli einen besonders bequemen Sessel mit einer hohen, geschnitzten Lehne hinstellen lassen.«Wer hier sitzen darf, muß dafür ja auch etwas leisten», hatte sie lächelnd gesagt, als sie ihm gestern abend den Raum zeigte.
    Zum drittenmal an diesem Vormittag schlug er die russische Grammatik auf. Aber es gelang ihm nicht, etwas aufzunehmen, es war, als gäbe es keinen Weg von draußen nach drinnen – als sei er mit einemmal blind für Zeichen und Bedeutungen. So war es schon gestern auf der Reise gewesen, einer Reise, die zu einem einzigen quälenden Kampf gegen den Widerwillen geworden war. Auf der Fahrt zum Flughafen hatte er die Leute in der S-Bahn beneidet, die kein Reisegepäck bei sich hatten, Leute mit bleichen, mürrischen Montagsgesichtern, die jetzt nicht nach Genua fliegen mußten. Später dann hätte er mit den Angestellten des Flughafens tauschen mögen, und den gerade gelandeten Fluggästen, die ihm aus seiner Maschine entgegenkamen, blickte er lange nach, jedem einzelnen von ihnen. Die hatten es hinter sich. Es war ein regnerischer, windiger Vormittag, die Autos fuhren mit Licht, Dezemberstimmung Mitte Oktober, ein Wetter, das die Vorfreude auf einen Flug in den Süden hätte steigern können. Doch ihm erschien nichts erstrebenswerter, als in Frankfurt zu bleiben. Er dachte an die stille Wohnung, wo überall Agnes’ Fotografien hingen, und es war ihm danach, sich darin einzuschließen und lange Zeit für niemanden erreichbar zu sein.
    Er saß schon eine Weile im Warteraum beim Flugsteig, als er plötzlich noch einmal hinausging und seine Sekretärin anrief. Es war ein Anruf ohne ersichtlichen Grund, er wiederholte Dinge, die sie längst besprochen hatten, die Sache mit der Post und wie sie sonst in Verbindung bleiben würden. Frau Hartwig wußte nicht, was sie sagen sollte, ihre Ratlosigkeit war hörbar.«Ja, natürlich, Herr Perlmann, ich werde es genau so machen wie verabredet. »Dann erkundigte er sich, eigentlich eine Zumutung in diesem Moment, nach ihrem Mann und ihren Kindern. Dieses zur Unzeit geäußerte Interesse berührte sie peinlich, und schließlich entstand eine längere, verlegene Pause,
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