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Perlentöchter

Perlentöchter

Titel: Perlentöchter
Autoren: J Corry
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Caroline noch Grace sich daran gewöhnt, dass sie nun die Ältesten in der Familie waren. »Als wären wir an der Spitze des Baums«, wie ihre Schwester es ausgedrückt hatte. Kurioserweise hatte Caroline in der letzten Zeit ein paar Recherchen über ihre Familiengeschichte angestellt, ausgelöst durch das plötzliche Bedürfnis, Dinge niederzuschreiben, die ihre Kinder später wissen mussten für den Fall, dass sie vielleicht nicht mehr da sein könnte, um sie weiterzugeben. Bislang hatte sie lediglich eine Liste von Namen zusammengetragen, die sie mit ihren üblichen kräftigen schwarzen Tintenstrichen auf einem Blatt Papier notiert hatte. An der Spitze stand ihre Urgroßmutter Louisa, die einen Dr. James Mason geheiratet hatte. Aus dieser Verbindung waren drei Kinder hervorgegangen: ihre Großmutter Rose, ihre Großtante Phoebe und eine weitere Großtante, Grace, nach der ihre Schwester benannt war. Caroline musste weiterforschen, doch sie fand nie genug Zeit. Vielleicht war diese Trauerfeier der Ansporn, den sie benötigte.
    Onkel Geoffrey wirkte sichtlich unruhig, während er sich umblickte und auf seine Uhr sah. »Wo steckt Simon?«
    »Auf Parkplatzsuche.«
    Ihre Blicke trafen sich, und es war nicht nötig, dass er etwas sagte. »Ganz schön viel Betrieb hier. Wir sind extra früh losgefahren, um noch einen Parkplatz zu bekommen. Jedenfalls schön, dich zu sehen.« Sein Blick wanderte anerkennend über ihr Outfit. »Komm und setz dich zu uns.«
    Caroline blickte auf die zwei freien Plätze in der Kirchenbank direkt am Mittelgang und auf das Bouquet aus Stargazer-Lilien, deren Duft sie benebelte und ihr leichte Übelkeit verursachte. »Grace wird bald hier sein.«
    »Dann wird sie sich irgendwo reinquetschen müssen. Beeil dich, Liebes. Sieht so aus, als wollten sie anfangen.«
    Sie sangen bereits das zweite Kirchenlied, als jemand neben Caroline glitt. »Endlich«, wollte sie sagen, bevor ihr bewusst wurde, dass es ihre Schwester war und nicht ihr Mann. »Die Franzosen haben mich aufgehalten.« Grace verdrehte die Augen. Nur ihre Schwester, benannt nach einer lange verstorbenen Großtante, besaß die Unverfrorenheit beziehungsweise die Begabung, ein cremefarbenes Kostüm von Amanda Wakeley zu einer Beerdigung anzuziehen. »Ein Wunder, dass ich überhaupt aus dem Meeting rauskam. War ja klar, dass die alte Krähe tot umfällt, ohne uns vorher Bescheid zu geben.«
    Pst, wollte Caroline sagen, aber das war nicht nötig. Mehrere Augenpaare um sie herum sprachen bereits Bände, obwohl Grace, wie immer, den Tadel nicht wahrnahm. Sie registrierte nur Bewunderung, die angesichts ihres Aussehens nicht knapp war. Neid war normalerweise kein Gefühl, unter dem Caroline litt, aber manchmal wünschte sogar sie sich, sie hätte die naturblonden Haare ihrer Schwester geerbt, die diesen Monat zu einem Bob frisiert waren, der an einen glatten Helm erinnerte, und auch ihre schlanke Figur. Aber tatsächlich beneidete sie Grace vor allem um ihr Selbstbewusstsein: um ihr sicheres Auftreten sowohl im Berufsleben als auch im Familienkreis aus der Überzeugung heraus, dass sie stets im Recht war und der Rest der Welt sie mal gern haben konnte. Simon führte diese Selbstsicherheit auf etwas zurück, was er freundlich als »Zuneigung für die Flasche« bezeichnete, und den Duty-free-Ausdünstungen nach zu urteilen, die von ihrer Schwester zusammen mit dem Duft ihres Parfüms Poison ausgingen , hatte er heute vielleicht recht damit.
    Wo zum Henker blieb Simon? Laut dem Programmheft kam gleich die Ansprache. Vielleicht hatte er einen dringenden Anruf von seinen Mitarbeitern bekommen oder vom stellvertretenden Redakteur oder der Rechtsabteilung oder einem der Hunderten von Menschen, die ihn jeden Tag brauchten. Es war erstaunlich, dass er sich überhaupt einen Tag freigenommen hatte.
    Grace stieß sie in die Rippen. »Meinst du, sie hat uns was vererbt?«
    »Pst«, zischte Caroline, die sich der Blicke ihrer Tante und ihres Onkels schrecklich bewusst war. Wie konnte ihre Schwester an so etwas denken?
    »Mach nicht so ein Gesicht!«, flüsterte Grace ihr ins Ohr. »Sie ist uns was schuldig. Das hast du selbst gesagt.«
    Zum Glück wurde jetzt wieder gesungen, sodass Caroline ihre Verlegenheit hinter den entschuldigenden Klängen des Kirchenliedes verbergen konnte. Tante Phoebe war eine Stütze dieser kleinen Kirche gewesen, und die kräftigen Stimmen der Trauergemeinde, die bis vor die Tür angewachsen war, sodass es mittlerweile nur noch
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