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Perlentöchter

Perlentöchter

Titel: Perlentöchter
Autoren: J Corry
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enger an sich.
    »Ich liebe dich auch.«
    Die Worte waren zwischen ihnen tausendmal gesagt worden, aber heute Abend war es anders.
    Sie atmete seinen Geruch ein. Einen seltsamen Augenblick lang roch er nach Hitze und Rosenblüten und Tabakrauch. War das nicht die Mischung, mit der ihre Großmutter Borneo beschrieben hatte in ihren Tagebüchern?
    »Warte hier«, sagte er leise. »Rühr dich nicht vom Fleck.«
    Schritte. Leicht im Sand. Langsam. Gründlich. Genau wie er. Schritte hinter ihr. Eine Tür in ihrem Kopf, die sich öffnet.
    »Schließ die Augen«, sagt Davids Stimme hinter ihr. »Ich möchte nicht, dass du es vorher siehst.«
    Lass es bitte keinen Ring sein, denkt sie. Dafür ist sie noch nicht bereit. Aber stattdessen spürt sie, dass sich etwas um ihren Hals schließt. Zwei Reihen. Aber anders als die Perlen haben sie leicht spitze Kanten, die ihre Haut streifen.
    Ein Handspiegel wird ihr nun in die Hand gedrückt, wie sie an der Form und dem kalten Glas ertasten kann. »Jetzt darfst du die Augen aufmachen.« Seine Stimme klingt aufgeregt, selbstzufrieden, ohne Prahlerei.
    Ihr stockt der Atem. »Das sind ja Muscheln. Winzige Silbermuscheln!«
    »Die meisten davon habe ich selbst gesammelt.« Er errötet vor Freude über ihren Gesichtsausdruck und, wie ihr bewusst wird, vor Stolz darüber, dass ihr sein Kunstwerk gefällt, nachdem er erst im reifen Alter sein Talent entdeckt hat. Er deutet mit einem kurzen, dicken Finger auf die kleinen Knoten zwischen jeder einzelnen Muschel. »Nur zur Sicherheit für den Fall, dass der Faden reißt. So gehen nicht gleich alle Muscheln verloren.«
    Genau wie bei ihrer ehemaligen Perlenkette. Bloß dass diese Kette anders ist. Während jemand das Feuerwerk zündet, das noch mehr Licht in den Nachthimmel wirft, wird ihr bewusst, dass es ein völliger Neuanfang ist.
    Die Erkenntnis macht sich langsam in ihr breit. Eine geradezu himmlische Vorstellung, denkt sie, und sie fühlt sich leicht wie ein Kind. Die plötzliche Gewissheit, dass sie nun, endlich, die Vergangenheit hinter sich lassen kann, weil sie den Bann gebrochen hat. Im Gegensatz zu ihrer Urgroßmutter, ihrer Großmutter und ihrer Mutter vor ihr hat sie eine neue Liebe gefunden und behalten. Sie hat immer noch ihre Kinder. Und sie ist am Leben!
    Die seidene Schlinge war für immer gerissen.

Epilog
    Viele Jahre später, als es Zeit war, das Haus ihrer Mutter zu entrümpeln, stieß Scarlet auf ein altes Buch, das den Namen ihrer Urgroßmutter Rose innen auf dem Titelblatt trug. Es war ein dickes Exemplar der Canterbury-Erzählungen mit einem malven- und rosafarben marmorierten Einband, und darin steckte ein dünner Zettel mit drei Zeilen in einer schönen, geneigten, gestochenen Handschrift.
    »Um die Vergangenheit zu weinen ist nutzlos.
Um die Gegenwart zu weinen trübt nur den Blick,
und man sieht weniger klar in die Zukunft.«
    Wie hübsch, dachte Scarlet und prägte sich das Gedicht ein, bevor sie es sorgfältig in das Buch zurücklegte, damit es eine andere Generation finden konnte.
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