Pension der Sehnsucht
Gesellschaft?«
»Es tut mir schrecklich leid«, heuchelte Nelly mit scheinheiliger Miene, »aber vor lauter Arbeit werde ich heute gar nicht zum Mittagessen kommen. Ich empfehle dir das Roastbeef. Meine Köchin bereitet es so zu, dass es auf der Zunge zergeht.« Zufrieden mit ihrer Ausrede, verließ sie das Büro.
Einfallsreichtum und Glück halfen Nelly, Percy den ganzen Nachmittag lang aus dem Weg zu gehen. Das Hotel war beinahe leer, denn die meisten Gäste gingen spazieren und genossen das milde Frühlingswetter.
Nelly huschte durch die stillen Gänge, ohne Percy zu begegnen. Sie fand sich zwar kindisch, genoss aber trotzdem das Versteckspiel. Sie hatte sich vorgenommen, jedes Zusammentreffen mit Percy bis zum Abendessen zu vermeiden.
In der Stunde vor dem Dinner war es ruhig im Haus. Vor sich hin summend, zählte Nelly den Bestand des Wäscheschranks im dritten Stockwerk. Da sie bezweifelte, dass Percy sie bis in diesen entlegenen Winkel verfolgen würde, entspannte sie sich und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Sie stellte sich Bootsfahrten auf dem See vor, Spaziergänge im Wald und lange Sommerabende. In ihre schönen Tagträume mischte sich jedoch ein Gefühl der Unzufriedenheit. Sie vermisste irgendetwas, oder besser gesagt, irgendwen.
Mit wem sollte sie auf dem See Boot fahren? Wer würde sie auf ihren Spaziergängen begleiten? Für wen lohnte es sich, die langen Sommerabende wach zu bleiben?
»Ich brauche ihn nicht«, murmelte Nelly und legte einen Stapel frisch gebügelter Bettlaken in den Schrank zurück. »Er ist völlig überflüssig.« Sie verließ die kleine Kammer und zog die Tür leise hinter sich zu. Als sie sich umdrehte, prallte sie mit Percy zusammen, der offenbar in unmittelbarer Nähe gestanden hatte. Sie schrie auf.
»Bist du immer so nervös?« Tröstend legte er ihr den Arm um die Schultern und sah sie amüsiert an. »Selbstgespräche führst du auch. Vielleicht brauchst du Urlaub.«
»Ich … ich …«
»Einen langen Urlaub«, ergänzte er und tätschelte väterlich ihre Wange.
Inzwischen hatte Nelly sich wieder gefangen. »Kein Wunder, dass du mich erschreckst, wenn du wie ein Gespenst durch die Gänge schleichst.«
»Ich dachte, das wäre hier so üblich«, erwiderte er lächelnd. »Du hast es doch selbst den ganzen Nachmittag lang getan.«
Erbost, weil er ihre Taktik durchschaut hatte, entgegnete sie: »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Entschuldige mich bitte, ich habe zu tun …«
»Weißt du eigentlich, dass du eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen hast, wenn du wütend bist?«
»Ich bin nicht wütend, sondern nur sehr beschäftigt.« So ein elender Kerl, dachte sie, weil sie seinem Lächeln nicht gewachsen war. »Wenn du mir etwas Geschäftliches zu sagen hast, dann tu es bitte gleich. Meine Zeit ist begrenzt«, fügte sie hinzu.
»Ich habe eine Nachricht für dich entgegengenommen«, erwiderte er, hob die Hand und fuhr mit einem Finger über ihre Stirnfalte. »Eine sehr wichtige Nachricht.«
»Ach?« entgegnete sie leichthin und wünschte, er würde sich etwas von ihr entfernen. Sie stand zwischen ihm und der Kammertür und fühlte sich wie eine Gefangene.
»Ich habe sie mir notiert, damit ich sie auch richtig wiedergebe.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und las: »Der Anruf stammt von einer Miss Peabody. Sie wollte dich davon in Kenntnis setzen, dass Cassandra ihre Babys bekommen hat. Vier Mädchen und zwei Jungen. Sechslinge.« Er senkte das Schriftstück und schüttelte den Kopf. »Wirklich erstaunlich.«
»Nicht, wenn die Mutter eine Katze ist.« Nelly spürte, wie sie rot anlief. Warum musste ausgerechnet er den Anruf entgegennehmen? Warum hatte Cassandra mit ihrem Wurf nicht warten können? »Miss Peabody gehört zu unseren ältesten Stammgästen. Sie kommt zweimal im Jahr hierher.«
»Ach so«, meinte Percy. Um seine Mundwinkel zuckte es. »Jetzt, wo ich meine Pflicht erfüllt und die Botschaft weitergegeben habe, bist du an der Reihe.« Er nahm ihre Hand und führte sie durch den Korridor. »Die gute Landluft macht Appetit. Du weißt doch, was es heute zum Abendessen gibt. Was würdest du uns empfehlen?«
»Ich habe keine Zeit zum Essen«, versetzte sie borstig.
»Du musst aber essen«, widersprach er. »Stell dir vor, ich wäre dein Gast. Du rühmst dich doch, deinen Gästen im Rahmen des Möglichen jeden Wunsch zu erfüllen. Ich möchte, dass du mir beim Abendessen Gesellschaft leistest.«
Nelly fühlte sich durch ihre eigene
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