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Peetz, Monika

Peetz, Monika

Titel: Peetz, Monika
Autoren: Die Dienstagsfrauen
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bevor er ihn zu Ende gedacht hatte.
    »Theoretisch«,
brachte er heraus, dann verlor er den Faden und die Konzentration. Einen Moment
lang glaubte er, etwas Wichtiges erledigen zu müssen, im nächsten war da nur
noch die Müdigkeit. Ein Schleier aus Mattigkeit senkte sich über alle Sorgen.
Sein Mund war trocken. Es war ihm egal. Er hatte nicht einmal Lust zu atmen.
    Manchmal
drang ein Wort durch den Nebel, manchmal spürte er Judiths Hand auf der seinen.
Mit Mühe öffnete er die Lider, sah die feuchten Augen von Judith und hatte sie
in der nächsten Sekunde wieder vergessen. Nichts ließ sich festhalten, kein
Fehler korrigieren. Manchmal wusste er nicht einmal mehr, wo er überhaupt war.
Es roch so komisch. Nach längst vergangenen Tagen. Nach Zigaretten. Nach
Eckstein No. 5. Er erkannte die Marke sofort. Sein Großvater hatte das Kraut
nach dem Krieg geraucht. »Das Tagebuch, vielleicht konnte der Großvater ... ich
sollte ...«, ging es ihm durch den Kopf. Dann kam nichts mehr.
     
    Arne Nowak
starb mit dem undeutlichen Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Er
sollte recht behalten.
     
    4
     
    Es war
eine würdevolle Beerdigung und ein stimmungsvoller Leichenschmaus im Le Jardin.
»Sterbenslangweilig, das Gerede«, hätte Arne sich beschwert. Doch die
Trauergäste waren zufrieden. Nur an Judith nagte das schlechte Gewissen.
    Das Gefühl,
nicht das Beste aus der gemeinsamen Zeit gemacht zu haben, wucherte in ihr wie
ein Tumor. Judith quälte sich mit Vorwürfen. Sie hatte so viele Momente in
ihrem gemeinsamen Leben vergeudet. Sie sehnte sich nach den glücklichen
Anfangstagen mit Arne. Frühstück im Bett, Mittagessen im Bett und abends auf
Brotkrümeln miteinander schlafen. Wie gerne hätte sie sich noch einmal über
Brösel im Bett beschwert.
    Sechs
Monate nach Arnes Tod hatte Judith das Gefühl, am absoluten Tiefpunkt
angekommen zu sein. Ohne Arnes tiefen Bass, das charakteristische Geräusch
seiner Hausschuhe und seine ewigen Papiere, die er überall liegen ließ, kam ihr
die Wohnung fremd vor. Sie brachte es kaum über das Herz, Dinge wegzuwerfen,
die Arne gehört hatten und jetzt nutzlos geworden waren. Dort, wo sie es
versucht hatte, blieb ein Vakuum zurück: ein leerer Haken an der Garderobe, ein
verwaister Nachttisch, eine unbenutzte Badezimmerkonsole. Judith hatte nichts,
womit sie die Lücke, die Arne hinterließ, hätte füllen können.
    An Arnes
Kleiderschrank hatte sie sich noch nicht herangewagt. Bis heute. Vorsichtig
schob sie die Tür beiseite. Ihre Hand glitt sacht über seine Wildlederjacke,
das Cordjackett mit den ovalen Lederaufsätzen an den Ärmeln, das er in der
Buchhandlung getragen hatte, und schließlich die Hemden. So peinlich ihr die
geschmacklosen Kleidungsstücke einst gewesen waren, so süß roch jetzt die
Erinnerung. Vorsichtig zog sie ein Flanellungetüm in Braun, Grün und Orange hervor.
Etwas fiel. Ein Gegenstand. Ein Buch. Arnes Tagebuch.
    Auf den
schwarzen Umschlag hatte Arne mit Tesafilm ein Heiligenbildchen geklebt: Am
Rand eines Baches, umgeben von Schafen, betete ein kleines Mädchen zu einer
Marienerscheinung. Judith kannte die Geschichte, die sich hinter dem Bild
verbarg. Das kleine Mädchen war die Müllerstochter Bernadette Soubirous, der
vor mehr als hundertfünfzig Jahren die heilige Jungfrau Maria erschienen war.
Dort, wo das kleine Mädchen seine Visionen hatte, erstreckte sich heute die
Wallfahrtsstätte von Lourdes. Tausende Pilger suchten hier täglich Heilung und
Stärkung. Pilger wie Arne.
     
    Arne hatte
seinen Weg nach Santiago de Compostela zwei Jahre vor der Krebsdiagnose
begonnen. Zweitausendvierhundert Kilometer waren es von seiner Kölner Haustür
bis zum Westportal der imposanten spanischen Kathedrale, die das Grab des
Apostels Jakobus beherbergte. Arne hatte die Strecke in Etappen eingeteilt, die
jeweils in zwei bis drei Wochen zu bewältigen waren. Als Berufsschullehrer
hatte er viel mehr Ferien als Judith, die zu den Zeiten ihrer Ehe mit Arne an
der Rezeption eines Kölner Therapiezentrums arbeitete, wo sie den Besuchern den
Weg wies zu den Physio-, Ergo-, Tanz-, Spiel- und Sprachtherapeuten, die sich
unter einem Dach versammelt hatten. Nach Arnes Tod hatte Judith ihren Job
gekündigt. Gegen den Rat der Freundinnen.
    Arnes
Pilgerreise war auf mehrere Jahre angelegt. Die Stationen seiner Reise hielt
er penibel in einem Tagebuch fest. Arne hatte Judith ab und an eine Seite
gezeigt: eine Zeichnung, ein Gedicht, eine Postkarte, die er auf
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