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Peetz, Monika

Peetz, Monika

Titel: Peetz, Monika
Autoren: Die Dienstagsfrauen
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Berechenbarkeit. Er küsste
immer erst eine Diagonale zum Bauchnabel runter und arbeitete sich parallel mit
der Handinnenfläche zum rechten Schenkel vor. Als hätte er das aus einem
Sexratgeber auswendig gelernt. Nach ein paar Jahren an seiner Seite war Judith
so durchgefroren, dass sie zu Wolf mit dem Wasserbett flüchtete. Und später zu
Arne. Kai legte Zeitungen auf die Autositze, wenn es regnete. Arne tanzte
barfuß durch den Park und wusch die Füße in einer Pfütze.
     
    »Theoretisch«,
presste Arne mühsam hervor. Judith schrak zusammen. Seit Tagen herrschte Stille
in dem Zimmer und jetzt ein Wort.
    »Theoretisch«,
murmelte Arne noch einmal, hob die Hand und ließ sie erschöpft fallen. Was
Judith auch probierte, wie nahe sie seinem Mund auch kam, es blieb bei diesem
einen Wort: »Theoretisch!«
    Thomas
Mann verlangte auf dem Sterbebett nach seiner Brille, Goethe mehr Licht und
Jesus der Legende nach gar nichts mehr. »Es ist vollbracht«, soll er am Kreuz
verkündet haben, bevor er zu seinem himmlischen Vater heimkehrte. In Judiths
Ohren klang das, als hätten fünf Marketingexperten lange darüber gebrütet,
welche letzten Worte sich bei einer Kreuzigung am wirkungsvollsten machten.
Arnes letzte Botschaft an die Überlebenden, sein letztes Wort war
»theoretisch«.
    Sinn ergab
das nicht. Ihr erster Mann Kai verkörperte die Theorie. Arne war der praktische
Lebensgenießer, unheilbar optimistisch und allem zugetan, was zwischen Himmel
und Erde schwebte. Wäre er sonst nach Lourdes gepilgert, zur Grotte der
heiligen Maria?
     
    Die Tür
flog auf und riss Judith aus ihren Gedanken. Caroline. Endlich. Endlich!
Erleichtert vergrub sie den Kopf an Carolines Schulter. Dabei war die Anwältin
niemand, den man so leicht umarmte. Aber Judith war einfach nur froh, nicht
mehr alleine zu sein. Caroline streichelte ihrer Freundin sanft über den
Rücken: »Es tut mir so leid, Judith.«
    »Eva
musste früher weg. Wegen Lenes Zahngeschichte. Sie ist mit dem Fahrrad
gestürzt.«
    »Wann ist
es passiert?«
    Ihre
Stimme klang mitleidig. Dabei war Caroline normalerweise die Erste, die Kritik
äußerte, wenn Eva sich zu sehr von ihrer Familie vereinnahmen ließ.
    »Gestern
Nachmittag schon. Als Lene aus der Schule kam. Aber der Zahnarzt wollte heute
noch einmal kontrollieren.«
    »Judith,
ich rede von Arne.«
    Caroline
durchbohrte Judith mit einem einzigen Blick. Es waren diese wachen, klugen,
unbestechlichen Augen, die ihren Prozessgegnern Angst machten. Und manchmal
auch Judith. Hilfe suchend drehte Judith sich zu Arne um und entdeckte, was
Caroline auf den ersten Blick erfasst hatte. Arne hatte aufgehört zu atmen. Die
dünne Haut, die das magere Gesicht umspannte, schimmerte grau. Ganz leise war
er gegangen. So als wollte er Judith nicht erschrecken.
     
    3
     
    Arne Nowak
starb am frühen Dienstagabend. Er hinterließ seine Ehefrau Judith, eine
Dreizimmerwohnung in der Blumenthaistraße, zwei Dutzend Flanellhemden und eine
Zeitbombe. Doch das war Arne erst bewusst geworden, als er bereits im vierten
Stock gefangen war. In dem dumpfen Dämmerzustand, in den das Morphium ihn
versetzte, blitzte undeutlich der erschreckende Gedanke auf: Das Pilgertagebuch,
das schwarze Notizbuch von Moleskine, es lag immer noch im Schrank. Der Platz
war sicher. Solange er lebte. Und nun hatte er es vergessen.
    Sein
unverrückbarer Optimismus hatte ihm einen letzten Streich gespielt: Arne wollte
nicht wahrhaben, dass seine Zeit abgelaufen war. Jeden Tag gaukelte er sich und
Judith vor, dass der Tumor ihm noch Zeit lasse. Jede Nacht betete er um
Aufschub. Warum hatte er die verräterischen Notizen nicht verbrannt, als er
noch mit Zeit und Kraft gesegnet war? Judith durfte nie erfahren, was er getan
hatte. Kein Kratzer sollte die Erinnerung an die gemeinsamen Jahre stören.
    Was, wenn
Judith das Buch fand? Was, wenn sie den Dienstagsfrauen davon erzählte? Was,
wenn sie ihnen die Notizen zeigte? Zehn Augen sahen mehr als zwei. Estelle
hatte eine Schwäche für Skandale, Caroline das untrügliche Gespür für Lügen.
Einmal im vierten Stock angekommen, schaffte er es nicht einmal mehr, sich die
Konsequenzen auszumalen, die es haben konnte, wenn die Wahrheit ans Tageslicht
kam. Nicht nur für Judith, auch für die anderen Dienstagsfrauen. »Theoretisch
...«
    »Theoretisch
kannst du schon mal anfangen, meine Sachen wegzuwerfen«, wollte er Judith mit
auf den Weg geben. »Du darfst dich nicht mit dem alten Kram belasten!« Der
Gedanke verschwand,
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