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Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Titel: Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
Autoren: William Brodrick
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gleichzeitig das andere zu verurteilen. Sie war noch ein Kind. Und als Kind verschloss sie die Augen vor dem schwersten Verbrechen, das das Strafrecht kennt. Sie schloss einen unausgesprochenen Pakt mit ihrer Mutter, Stillschweigen zu bewahren, als ob sie es ihrem misshandelten Bruder schuldig gewesen wäre. Das konnte Elizabeth nur, indem sie die Vergangenheit auslöschte – jede Erinnerung, jeden Geruch, jeden Geschmack, jedes Geräusch – und indem sie eine neue Geschichte eingebildeter Empfindungen erfand. Und sie schaffte es. Sie machte Karriere, sie heiratete und sie bekam ein Kind. Aber dann tauchte der Halbbruder, den sie beschützt hatte, in diesem wunderbaren Universum auf, das sie sich geschaffen hatte.«
    Der Mönch hob ein paar Zweige auf und zerbrach sie, während er sich in das Erleben eines anderen hineinversetzte.
    »Als Riley Ihre Mutter beauftragte, ihn zu verteidigen, tat er das vor allem, um George zum Schweigen zu bringen. Aber es steckte noch mehr dahinter. Er wollte eine Leistung zerstören, deren Anblick ihm unerträglich gewesen sein muss. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie sich so verändert, dass sie kaum wiederzuerkennen war; er dagegen, der andere Ausreißer, konnte nur in dasselbe verkommene Spiegelbild schauen. Es lohnt sich also durchaus, zu überlegen, was Riley nun von Ihrer Mutter verlangte. Zunächst hielt er ihr das Stillschweigen über den Mord an Walter vor wie einen Spiegel. Er sagte: ›Schau es dir gut an, schau genau hin: Deine Position als Rechtsanwältin ist ein Schwindel und war es von Anfang an; dein Abbild ist genauso besudelt wie meins.‹ Und niemals war das für Elizabeth deutlicher zu spüren als in dem Moment, in dem sie gezwungen war, Anji ins Kreuzverhör zu nehmen und in das unglückliche Gesicht ihrer Vergangenheit zu starren – wie sie es empfunden haben muss.«
    Pater Anselm schaute Nick auffordernd an, etwas zu sagen, aber sein Kopf war leer bis auf das, was er gerade gehört hatte. Es war natürlich reine Fantasie, aber aus der Art des Mönchs, aus seiner Wortwahl sprach irgendetwas tatsächlich von Elizabeth, einer Mutter, die ihrem Sohn etwas hatte sagen wollen.
    »So, und was tat Elizabeth in dieser furchtbaren Situation?«
    Pater Anselm hob noch mehr Zweige auf. »Sie kapitulierte. Aber wieso? Diese Frau hatte ihr Leben dem Recht gewidmet, sie glaubte an ein ordentliches Gerichtsverfahren. Wie konnte sie dulden, dass er gewann und alles, was ihr etwas bedeutete, besiegt wurde? Das ist die schwierigste Frage. Ich glaube, ich kenne die Antwort.
    Riley verlangte ausdrücklich Ihre Mutter, weil er Folgendes glaubte: Sie hat mir einmal geholfen, sie wird mir wieder helfen. Das war eine gewaltige Fehleinschätzung. Elizabeth hatte sich mehr verändert, als er sich vorstellen konnte. Sie fühlte sich dem Recht so stark verpflichtet, dass sie, glaube ich, die Gelegenheit genutzt hätte, um die Fakten ihres Lebens ohne Rücksicht auf den persönlichen Preis zu enthüllen. Aber das tat sie nicht. Was Riley nicht wusste und was ihn letztlich gerettet hat, ist, dass Elizabeth inzwischen einen Sohn hatte. Nick, ich denke, sie hat Ihretwegen mit Riley kooperiert. Um Sie zu behüten. Um Sie unbeschadet zu lassen. Um die Welt, die sie mit Charles für Sie geschaffen hatte, intakt zu erhalten.«
    Es gefiel Nick nicht, dass Pater Anselm genau dieselben Worte benutzte, mit denen er sich beklagt hatte, aber der Mönch tat es so behutsam und zögernd, als schiebe er sie ihm über die Theke zurück. Nick schaute auf den Fluss und einen merkwürdigen Dunst, der auf der anderen Seite aufstieg und sich zu einer dünnen silbrigen Nebelbank ausdehnte. Benommen hörte er Pater Anselms Ausführungen zu.
    Elizabeth bezahlte einen hohen Preis, sagte er zögernd. Indem sie das Mandat fortführte, brach sie die Regeln ihres Berufsstandes. Indem sie Anselm bat, George ins Kreuzverhör zu nehmen, hoffte sie dennoch, den Prozess zu verlieren. Aber selbst das ging schief, weil ihr Handlanger leider Glück hatte. In den folgenden Jahren brachte nichts Elizabeth’ Entschlossenheit, Stillschweigen zu bewahren, ins Wanken – weder der Brief der armen Mrs. Bradshaw noch der Tod ihres Sohnes. Der starke Geist ihrer Kindheit war zurückgekehrt. Und da sie so fest entschlossen war, verlor sie den Glauben an das Rechtssystem – so wie sie vorher den Glauben an ihre Familie verloren hatte.
    »Aber dann passierte etwas ungeheuer Wichtiges«, sagte Pater Anselm. »Ihre Mutter erfuhr, dass
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