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Paravion

Paravion

Titel: Paravion
Autoren: bouazza
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stört den Schlaf bisweilen nicht minder als Lärm. Er blinzelte, schien sich nicht entscheiden zu können zwischen den Traumfarben, deren Rot noch auf seinen Wangen zu sehen war, und der Dämmerung im Zimmer, und wählte schließlich letztere. Schnell sprang er auf und rannte hinaus, wo sich die Menge versammelt hatte. Er griff nach irgendeiner anonymen Hand – sein verschlafenes Haupt war eine schwarzstachlige Distel, was seine Mutter so sehr an ihm liebte. Doch als er bemerkte, was los war, ließ er die Hand los und lief, zuerst nur mit zugeschnürtem Hals, dann wimmernd und schließlich laut schreiend den Männern hinterher. Mit aller Kraft, die sein kleiner Körper aufbringen konnte, das Kinn auf die Brust gepreßt, die Fäuste geballt, die Daumen abgespreizt, Bäuchlein vorgestreckt, sauste er in seinem gestreiften Gewand, das ihm bis zu den Knien reichte – er war darin tatsächlich herangewachsen, hatte nie etwas anderes getragen –, barfuß den Hügel hinunter. Die anderen Jungen lachten. Er rannte so schnell, daß er nicht mehr anhalten konnte, ohne hinzufallen, und fiel deshalb auch in einer Staubwolke direkt aufs Gesicht.
    Unter Tränen und atemlos rappelte er sich auf, und ging zurück, wo er beschämt in den Falten unter Mutters Bauch verschwand. Sie klopfte ihn lachend ab und streichelte ihm tröstend übers Haar. Vater kommt bald wieder. Die Jungen schnoben voller Verachtung über Senunus Weinen durch die Nase: Pfiff, und so was will der Mann im Haus sein!
    Senunu hob den tränenklaren Blick, worin der Morgen untergegangen war. Es war nicht die Abreise des Vaters, die ihn so traurig machte – das bedeutete nur weniger Prügel für ihn –, auch nicht der Umstand, daß er ihm nicht hinterherwinken konnte, nein, Senunu gehörte zu den rätselhaften Jungen, die es nicht ertragen können, wenn sie jemanden anderen nicht überholen können oder von diesem überholt werden.

    2
    Fünf Monate später brachten alle Frauen des Dorfs am selben Tag und zur selben Zeit ein Mädchen zur Welt. Die erfahrenen Frauen kauerten sich in ihren Kleidern auf den Schlafzimmerboden und preßten der Tochter, die jetzt Hebamme sein mußte, mühelos das Kind in die Hände. Für die jüngeren Frauen war die Geburt schmerzhafter und wurde begleitet von lautem Gebrüll; auf dem Rücken liegend sammelten sie zwischen dem Gekeuche genug Atem, um ihre abwesenden Männer zu verfluchen. Die Jungen nörgelten die ganze Zeit – schon wieder ein Familienmitglied mehr – und versteckten sich, aus Angst, die Mutter könnte sterben, doch noch größer war ihre Angst, der Vater könnte die Flüche der Mutter hören, so laut wie diese schrie.
    Die Luft erschrak von den ersten Schreien, die alle zur gleichen Zeit ertönten, und die Vögel flogen auf. Die Babys wurden an die Brust gelegt, und die Mütter kehrten zu ihren Alltagsbeschäftigungen zurück. Sie, die geübter waren im Gebären, pflegten die Frauen, die wohlrosig und schwächlich das Bett hüteten, ein verträumtes Lächeln auf den Lippen.
    Das alles hörte Mamurra in ihrem Haus und warf Cheira und Heira einen Blick zu. Sie nahm gerade einen Vogel aus, während die eine der beiden alten Frauen in einem Steinmörser Pfeffer zerdrückte und die andere Bohnen palte. Sofort unterbrachen sie ihre Tätigkeit, um Mamurra mit klebrigen Fingern zu trösten. Seit Baba Baluks Abschied verbrachten sie jeden Tag bei ihr, nur schliefen sie nicht im Haus. Die Nacht, so sagten sie und zwinkerten dabei, sei ihr Arbeitsfeld.
    Mamurra fürchtete die einsame Finsternis im einsamen Zimmer auf ihrem einsamen Bett, eine zärtliche Beute für Alpträume. Die mußte sie ertragen, denn aufgrund der Schwangerschaft konnten Cheira und Heira ihr keine Kräuter geben. Statt dessen legten sie Mamurra ein Messer und ein bißchen Salz hinters Kissen, damit sie nicht mitten in der Nacht aufwachte. Manchmal übernachtete Mamurra bei den Zwillingen, während diese zur Arbeit auszogen. Lärm und Aufruhr im Johannisbrotbaum gaben Mamurra zu denken, was taten die beiden eigentlich, bevor sie mit einem Kloß im Hals und ihrem Mann im Herzen einschlief. Das Kringeln des Kindes in ihrem Bauch beruhigte sie.
    Nach Baba Baluks Abreise hatte sie die Zwillinge aufgesucht und überredet, jeden Tag zu ihr zu kommen und ihr bei der Zubereitung einer üppigen Mahlzeit zu helfen. Weil, so erklärte sie und starrte dabei ins Leere, er Hunger haben müsse. Cheira und Heira gehorchten ihrer zarten Laune. Sie hatten Mamurra noch nie
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