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Paradies

Paradies

Titel: Paradies
Autoren: Liza Marklund
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spähte auf das Meer hinaus. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, die Waffe war schussbereit. Vergeblich versuchte er, ihren Kopf zwischen den Wellen auszumachen.
    Das würde sie nie schaffen. Es war zu kalt, der Wind war zu stark.
    Es war zu spät.
    Zu spät für Aida aus Bijeljina. Sie war zu groß geworden. Sie war zu einsam.
    Er blieb noch einen Moment in der beißenden Kälte stehen. Der Wind schlug ihm entgegen, schleuderte Eisstücke in sein Gesicht.
    Das Geräusch, das der Anlasser des Scania hinter ihm machte, wurde verweht, fort, nach hinten, drang niemals zu ihm durch.
    Der Sattelschlepper glitt im Goldschein lautlos, spurlos davon.

TEIL 1
    OKTOBER

Ich bin kein böser Mensch
    Ich bin ein Produkt meiner Lebensbedingungen und der Umstände. Alle Menschen werden in das gleiche Leben geboren, nur die Voraussetzungen unterscheiden sich: die genetischen, kulturellen, sozialen.
    Ich habe getötet, das ist wahr, aber letztlich uninteressant. Die Frage ist vielmehr, ob ein Mensch, der nicht mehr lebt, es überhaupt noch verdient hat, zu leben. Ich kenne meinen Standpunkt, aber er braucht nicht mit dem anderer übereinzustimmen.
    Man mag mich gewalttätig finden, was aber nichts mit Bösartigkeit zu tun haben muss. Gewalt ist Macht, genau wie Geld oder Einfluss. Wer sich entschließt, Gewalt als ein Werkzeug zu benutzen, kann dies auch ohne Bösartigkeit tun. Den Preis muss man allerdings immer bezahlen.
    Der Griff zur Gewalt ist nicht gratis, du musst deine Seele dafür verpfänden. Dadurch sind die Einsätze unterschiedlich hoch, für mich gab es nicht viel zu verlieren.
    Die Leere wird anschließend mit den notwendigen Voraussetzungen gefüllt, um die Gewalt wirklich ausüben zu können, die Bösartigkeit ist eine davon, Verzweiflung eine andere, Rache eine dritte, rasende Wut eine vierte, und bei den Kranken die Lust.
    Und ich bin kein böser Mensch.
    Ich bin ein Produkt meiner Lebensbedingungen und der Umstände.

SONNTAG, 28. OKTOBER
    Der Securitas-Wachmann war aufmerksam. Überall konnte man die Verwüstungen durch den nächtlichen Orkan sehen – umgestürzte Bäume, Blechteile von Lagerhallen und Dächern, verstreute Waren.
    Als er den Freihafen erreichte, bremste er abrupt. Auf dem breiten Platz direkt am Meer lag das Innere eines Flugzeugcockpits, medizinische Ausrüstung, Teile eines Badezimmers. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Wachmann begriff, was er betrachtete: Wrackteile aus dem Requisitenvorrat des schwedischen Fernsehens.
    Die toten Menschen sah er erst, als er den Motor abgestellt und den Gurt gelöst hatte. Seltsamerweise war er weder entsetzt noch schockiert. Die schwarz gekleideten Leichen lagen vor der beschädigten Treppe aus einer längst abgesetzten Fernsehserie. Noch ehe er aus dem Wagen gestiegen war, wusste er, dass die zwei Männer ermordet worden waren. Dazu bedurfte es keiner größeren Kombinationsfähigkeit. Die Schädel der beiden fehlten zum Teil, und etwas Klebriges war stattdessen auf den vereisten Asphalt gelaufen.
    Ohne sich Gedanken über seine eigene Sicherheit zu machen, verließ der Wachmann sein Auto und ging zu den Männern, die nur wenige Meter von ihm entfernt lagen. Seine Reaktion ließ sich am ehesten noch mit Verwunderung vergleichen. Die Leichen sahen äußerst seltsam aus, wie kleine Brüder von Marty Feldman. Die Augen waren ihnen halb aus den Höhlen getreten, die Zungen hingen heraus, beide hatten eine kleine Markierung auf dem Kopf, und beiden fehlte ein Ohr und, wie gesagt, große Teile von Hinterkopf und Hals.
    Der Lebende betrachtete die beiden Toten eine Weile, wie lange, konnte er später nicht genau sagen, bis eine verspätete Sturmbö zwischen den Silos der Raiffeisenkooperative hindurchfuhr und ihn zu Boden warf. Er fing sich mit den Armen ab und setzte dabei unabsichtlich die rechte Hand in die ausgelaufene Hirnsubstanz einer der Leichen. Das Gefühl des kalten, zähflüssigen Breis zwischen den Fingern löste bei dem Lebenden augenblicklich heftige Übelkeit aus. Er erbrach sich auf die Stoßstange seines Autos und wischte die klebrige Masse anschließend wie wild an den Plüschbezügen des Fahrersitzes ab.
    Um 05.31 Uhr wurde die Einsatzzentrale der Polizei auf Kungsholmen in Stockholm vom Freihafen aus alarmiert. Drei Minuten später erreichte die Nachricht das
Abendblatt.
Es war Leif, der anrief.
    »Wagen 1120 und zwei Krankenwagen sind unterwegs zum Värtanhafen.«
    Um diese Uhrzeit, neunundvierzig Minuten nach Redaktionsschluss und
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