Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
flüsterte ich.
    »Lovis«, sagte der Körper mit einer Stimme, die eigentlich schlief. Es war Claas.
    Natürlich war es Claas. Er war irgendwann in der Nacht nach Hause gekommen und hatte sich zu mir ins Bett gelegt wie immer. Jetzt seufzte er, wälzte sich auf die Seite und atmete weiter, schwer und gleichmäßig und, wie es mir schien, gleichgültig. Und auf einmal wurde ich wütend.
    Ich wollte nicht, dass Claas schlief. Ich wollte, dass Claas wach war, wach und bei mir, dass er so verzweifelt war wie ich, dass er sich Vorwürfe machte wie ich, dass er sagte: Ich kann nicht schlafen, halt mich fest, oder umgekehrt: Kannst du nicht schlafen? Ich halte dich fest …
    Aber er war müde, müde von seiner Arbeit in der Klinik, die wie immer wichtiger schien als alles andere.
    Ich stand auf und tastete mich hinaus in den Flur, tastete mich ins Bad, machte das Licht an und wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser. Dann sah ich in den Spiegel über dem Waschbecken.
    Die Frau, die mir daraus entgegenblickte, sah nicht aus wie jemand, dem ich begegnen wollte. Ihr schmales Gesicht war fahlgrau, auf ganz andere Art blass als das Kindergesicht im Krankenhaus: alt, älter als es in Wirklichkeit war. Verquollen vom Weinen.
    Ich schloss die Augen und rief in Gedanken den Tag zurück, an dem wir den Spiegel aufgehängt hatten. Damals war das Bild darin unendlich viel jünger gewesen, ein hübsches Bild einer hübschen, lächelnden Frau.
    Wir hatten uns zusammen in diesem Spiegel gespiegelt, Claas und ich, Umzugsstaub in den Haaren. Wir hatten uns vor dem Spiegel geküsst.
    »Jetzt haben wir fast alles«, hatte Claas gesagt. »Uns und ein schönes altes Haus und einen Garten. Jetzt brauchen wir nur noch das zugehörige Kind.«
    »Und den Golden Retriever«, hatte ich gesagt. »Um Gottes willen.«
    »Aber an Gott glauben wir doch gar nicht«, hatte Claas gesagt.
    »Es reicht ja, wenn wir an das Kind glauben«, hatte ich geantwortet, lachend, übermütig. »Wir sollten uns damit beeilen, es herzustellen …«
    Ich öffnete die Augen.
    Der Moment der Vergangenheit war vorüber. Jetzt spiegelte ich mich alleine dort, das helle Haar fiel in nassgeschwitzten Strähnen herab, und unter den Augen lagen bläuliche Schatten. Die Falten in meinen Mundwinkeln schienen tief wie nächtliche Krater.
    Ich dachte an Davids Diagramm zur Darstellung von Alter und Faltenzahl des Menschen, und dann kehrte ich meinem Bild den Rücken: dem Nachtgespenst, dem Kunstlichtphantom, jenem grauenhaften Seelenspiegel.
    Einen Moment lang stand ich vor der Tür zu Davids Zimmer, doch ich brachte es nicht über mich, es zu betreten. Stattdessen ging ich barfuß die alte Holztreppe hinunter, im Nachthemd, und setzte mich an den Küchentisch. Vor der Verandatür lag der schmutzig weiße Hund und schlief.
    »Da bist du ja wieder«, flüsterte ich. »Weißt du etwas über David, das ich nicht weiß?«
    Ich setzte mich auf der Innenseite der Verandatür auf den Fußboden, nur die Scheibe trennte mich und den Hund –
    »Lovis«, sagte Claas. Ich blinzelte. Ich war völlig steifgefroren. Claas kniete vor mir und sah mich mit seinen grauen Augen an, zwei Schlechtwetterteiche aus Besorgnis. »Lovis, was tust du hier?«
    »Ist der Hund noch da?«, fragte ich.
    »Hund?«, fragte Claas.
    Ich ließ mir von ihm auf die Beine helfen und sah hinaus. Auf der leeren Veranda spielten leise die ersten Morgensonnenstrahlen. Es würde ein wunderschöner Maitag werden, sommerlich warm, lieblich, ein Tag, an dem andere Leute über das Heiraten nachdachten. Ich wünschte, es hätte geregnet.
    »Da war ein Hund«, sagte ich, »weiß, mit Flecken. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat.«
    Claas machte Kaffee. Er war vollständig angezogen. Seine Tasche stand auf der Anrichte, bereit, mit in die Klinik genommen zu werden.
    »Heute muss ich noch hin«, sagte er und schob mir eine Keramiktasse herüber, die groß genug war, um darin zu baden. Ich wusste noch, wie wir diese Tasse zusammen gekauft hatten, es war in dem Jahr gewesen, in dem wir eingezogen waren.
    »Von morgen an kann ich freimachen. Eine Woche lang. Oder … so lange, wie du mich hier brauchst.«
    »Ich brauche dich nicht«, sagte ich und klang wie ein dummes, trotziges Kind. Natürlich brauchte ich ihn. Ich wärmte meine Hände an der Tasse. »David braucht dich. Hätte dich gebraucht. Du warst aber nicht da.«
    »Wie bitte?«
    »Er hätte uns beide gebraucht. Ich war da, körperlich, aber ich war nicht für ihn da. Und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher