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Papierkuesse

Papierkuesse

Titel: Papierkuesse
Autoren: Pali Meller
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führenden Vertreter des Internationalen Stils wurde. In Holland lernte Pali aber nicht nur die moderne Architektur des Funktionalismus kennen, die er 1927 zusammen mit Oud in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart umsetzen konnte; er begegnete in Den Haag auch einer Tänzerin namens Petronella Colpa, die er fortan nur noch Mea nannte und die schon bald seine Frau werden sollte (Abb. 3). Der possessive Kosename entsprang weniger ehelichen Besitzansprüchen als Mellers Wortwitz: Denn er spielte auch auf das »Mea culpa« im katholischen Schuldbekenntnis
Confiteor
und damit auf die Konfession seiner Frau an.
    Bald nach der Hochzeit am 6. Februar 1929 zog es das junge Paar nach Berlin, in die Kulturmetropole der Weimarer Republik, wo Pali trotz Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit im Oktober eine Anstellung bei dem angesehenen Architekten und Kirchenbaumeister Otto Bartning fand. Bartning hatte zusammen mit Walter Gropius 1918 die Bauhausidee entwickelt und das Programm weitgehend formuliert, war jedoch durch den Alleingang von Gropius an der Gründung und Umsetzung in Weimar nicht beteiligt. Nach dem Umzug des Bauhauses nach Dessau 1925 übernahm er die Leitung der neu gegründeten Staatlichen Hochschule für Baukunst und Handwerk in Weimar, die sich als Nachfolgeeinrichtung des Bauhauses auf eine praxisorientierte Architektenausbildung spezialisierte. Als 1930 die Nationalsozialisten in die Thüringische Landesregierung einzogen und den linientreuen Paul Schultze-Naumburg als Direktor einsetzten, zog Bartning zurück nach Berlin, wo er 1932 mitdem Bau der Gustav-Adolf-Kirche begann. An dem Entwurf für die gestaffelte Fächerkirche im Stil der Neuen Sachlichkeit mit expressionistischen Anklängen hatte er bereits 1929 zusammen mit Pali Meller gearbeitet.
    Das junge Ehepaar Meller zog in den gerade fertiggestellten Siedlungsbau von Otto Rudolf Salvisberg in der Knobelsdorffstraße im Berliner Westend. Ihre bescheidene Wohnung in der fünften Etage war puristisch und funktional ganz im Stil der Zeit eingerichtet; die Möbel hat der Hausherr sämtlich selbst entworfen (Abb. 6). Auf den Holzböden lagen Sisalmatten, statt Gardinen wurde abends eine Shojiwand vor den Fenstern befestigt. Über der Küchenzeile, die aus einem offenen Geschirrregal und einem Elektrokocher bestand, musste Pali schon bald eine Empore für seinen Arbeitstisch und ein Bücherregal einziehen, um Platz für den Nachwuchs zu schaffen (Abb. 7). 1930 wurde der Sohn Paul Maria geboren, vier Jahre später die Tochter Barbara (Abb. 8 ff.). Beide Kinder wurden wie ihre Mutter katholisch getauft.
    Privat wie beruflich bildete das Jahr 1934 mit der Geburt der Tochter und der Einweihung der Gustav-Adolf-Kirche einen Höhe- aber auch Wendepunkt in Pali Mellers Leben. Denn die goldenen Zwanzigerjahre wurden weniger durch seinen dreißigsten Geburtstag im Sommer 1932, als durch den Machtantritt Hitlers 1933 auf radikale Weise beendet. Im Sommer 1935 traf ihn ein weiterer Schicksalsschlag: Bei einer gemeinsamen Autofahrt verunglückte seine Frau tödlich. Pali verlor nicht nur seine junge Frau, sondern auch den ohnehin zerbrechlichen Schutz seiner interreligiösen Ehe. Doches gelang ihm, seine jüdische Abstammung zu verbergen, und er fühlte sich offenbar aufgrund seiner ungarischen Herkunft in Deutschland weiterhin relativ sicher. Die rechtskonservative Horthy-Regierung Ungarns hatte in Hitler-Deutschland den geeigneten Bündnispartner für ihre revisionistische Politik gefunden, die sie allerdings mit immer größeren Kriegstributen und antijüdischen Maßnahmen bezahlen sollte. Auf einen gebürtigen Ungarn mit österreichischer Staatsangehörigkeit fanden die Nürnberger Rassengesetze von 1935 zwar zunächst noch keine Anwendung. Mit dem Anschluss Österreichs wäre Pali Meller aber nach der offiziellen Terminologie als »Volljude« und Witwer einer »privilegierten Mischehe« einzustufen gewesen, weil er zwei minderjährige Kinder hatte.
    Die beiden Kinder wurden nach dem Tod ihrer Mutter zunächst in einem Kinderheim untergebracht, bis Pali nach einem Dreivierteljahr zuerst den Sohn und ein halbes Jahr später auch die Tochter zu sich nach Berlin holte. Mit Hilfe der Haushälterin, Franziska Schmitt (Abb. 13 u. 16), gelang es ihm trotz der latenten Bedrohung ihrer bürgerlichen Existenz und der permanenten Belastung als alleinerziehender Vater, für sich und die beiden Kinder ein relativ geregeltes Leben aufrechtzuerhalten. Dabei ließ er sich weniger
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