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Papa

Papa

Titel: Papa
Autoren: Sven I. Hüsken
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sie schon gelaufen, doch im Grunde hatten sie sich nicht von der Stelle gerührt. Überall waren Büsche und schlanke Bäume. Alles sah gleich aus.
    In diesem Wald würden sie niemanden finden.
    Michelle stellte sich vor, wie Lilly all die Tage hier allein verbracht hatte. Im Dunkeln.
    Verängstigt. Voller Hoffnung, gefunden zu werden.
    Wütend warf Michelle die Taschenlampe gegen einen Baum. Der Lichtkegel blendete sie für den Bruchteil einer Sekunde. Es krachte, und um sie herum wurde es finster.
    »Was machen Sie denn?«, fragte Robert Bendlin empört und stapfte durch den Morast auf sie zu. Von allen Seiten leuchteten Polizisten mit ihren Taschenlampen zu ihnen.
    »Alles in Ordnung da drüben?«, rief die Stimme, die auch nach den Sanitätern gerufen hatte.
    »Alles gut!«, schrie Bendlin zurück und fasste Michelle unsanft am Oberarm. »Wollen Sie Ihre Tochter nicht finden? Was soll denn der Scheiß?«
    »Haben Sie schon mal daran gedacht, dass Ihre Theorie falsch ist? Dass wir hier unsere Zeit vergeuden?« Michelle hätte am liebsten in irgendetwas gebissen, nur um die Spannung loszuwerden.
    »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Es ist völlig egal, ob meine Theorie richtig oder falsch ist, denn wir haben dummerweise keine andere. Im Übrigen glaube ich fest daran, dass wir auf dem richtigen Weg sind.« Dann fuhr er sanfter fort. »Mir ist klar, dass Sie fix und fertig sind. Das sind wir alle. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir Lilly heute finden werden. Okay?«
    »Ich will mir nur keine falschen Hoffnungen mehr machen. Jetzt ist sie das Einzige, was ich noch habe. Das Einzige, was mir Lebensmut gibt. Wird sie mir genommen, werde ich ihr folgen.« Das meinte sie so, wie sie es sagte. Nichts würde sie davon abhalten können.
    Was sie gesehen hatte, was sie durchstehen musste, sollte kein Mensch je erleben. Wie sollte sie weiterleben mit der Gewissheit, ihre Tochter nie gefunden zu haben? Mit der Gewissheit, dass ihr kleines Mädchen irgendwo allein grauenvoll gestorben ist? Wie?
    Michelle wusste die Antwort: überhaupt nicht. Vielleicht schaffte man, es eine Zeitlang zu verdrängen, aber irgendwann würde es einen wie eine Steinlawine überrollen und unter sich begraben.
    Obwohl sie fast nichts sah und der Boden immer rutschiger wurde, beschleunigte sie ihre Schritte. Haare klebten ihr nass im Gesicht, und ein feines Rinnsal Regenwasser lief ihr den Rücken runter.
    Es war nur eine kurze Reflexion. Nasse Rinde blitzte auf, als der Lichtkegel eines Polizisten einen Baum in gut zwanzig Meter Entfernung streifte.
    Michelle schnappte nach Luft, und Regen lief ihr kalt in den Mund. Der Baum wollte sich so gar nicht in das Gesamtbild des Waldes einfügen. Er war viel breiter und größer als alle anderen Bäume ringsum.
    Sie gab Robert Bendlin ein Zeichen.
    »Hey«, schrie er. »Leuchtet mal hierher. Ich glaube, wir haben was.«
    Im nächsten Moment fühlte sich Michelle wie in einem Wespenschwarm. Von überall her schwirrten Lichtkegel heran. Dutzende Stimmen brüllten durcheinander. Alles konzentrierte sich auf den Punkt ein paar Meter vor ihnen.
    Michelle hatte das Gefühl, nur noch vorwärts zu torkeln. Jeder Schritt war so unsicher, dass sie jeden Moment hätte stürzen können.
    Im Schein der vielen Taschenlampen schälten sich die Umrisse einer Hütte aus dem Dunstschleier des Regens.
    Jetzt war sie nicht mehr zu halten. Sie stürmte voran, achtete nicht auf das Dornengestrüpp, das die geliehene Hose zerriss, und blieb vor der eingefallenen Tür stehen.
    Sie wartete einen Moment, bis die Polizisten näher kamen und es heller wurde, dann versuchte sie, einzusteigen. »Lilly«, rief sie, und ihre Stimme klang so erbärmlich dünn, dass sie kaum durch das Prasseln des Regens drang. »Ruf, wenn du hier bist. Tu etwas. Mach dich bemerkbar, damit wir dich finden.«
    Doch die Hütte war fast vollständig verfallen. Hier gab es nichts und niemanden.
    Michelle torkelte rückwärts. Sie hätte nicht sagen können, ob sie weinte. Sie spürte gar nichts, außer einem Loch, das versuchte, sie einzusaugen.
    Ihre Füße traten auf Holz. Es gab ein hohles Geräusch, und Glas knackte. Erschrocken ließ sie sich auf die Knie fallen.
    Unter ihr war ein altes Fenster, das achtlos auf dem Boden lag. Das Glas hatte ein Loch und war rissig.
    Die Polizisten ringsum suchten die Gegend ab. Ihre Schreie dröhnten in Michelles Ohren. Das Blaulicht des Krankenwagens blendete. Regen durchnässte ihre Kleidung und lief ihr über das
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