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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Autoren: Tad Williams
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hatte keine Lust, bei einem vorgegebenen Szenarium mitzuspielen. »Aber wie heißt du wirklich? Vaala?«
    Der sorgenvolle Blick verfinsterte sich. Sie beugte sich zurück wie vor einem Tier, das sie jeden Augenblick anspringen konnte. »Bitte, Odysseus, sage mir, was du von mir zu hören wünschst. Ich will dich nicht erzürnen, denn sonst könnte es geschehen, daß deine Seele gar keine Ruhe mehr findet.«
    »Seele?« Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie scheute zurück. »Meinst du denn, ich bin tot? Sieh doch, ich lebe! Faß mich an!«
    Noch während sie ihm mit einer ebenso anmutigen wie entschlossenen Bewegung auswich, wechselte ihre Miene schlagartig von Furcht zu Verwirrung. Gleich darauf überkam sie eine tiefe Traurigkeit, und ein Blick erschien, der keinen Bezug zu ihren vorherigen Reaktionen zu haben schien. Es war beängstigend mit anzusehen.
    »Ich habe dich lange genug mit meinen Frauensorgen aufgehalten«, sagte sie. »Die Schiffe zerren an den Ankertauen. Die Helden Agamemnon und Menelaos und die andern warten ungeduldig, und du mußt übers Meer nach dem fernen Troja fahren.«
    »Was?« Paul wurde aus dem plötzlichen Stimmungsumschlag nicht schlau. Eben noch hatte sie ihn behandelt, als wäre er das Gespenst ihres Mannes, jetzt wollte sie ihn hopplahopp in den Trojanischen Krieg schicken, der längst aus sein mußte – wieso sonst sollten alle so staunen, daß er noch lebte? »Aber ich bin doch gerade zu dir heimgekehrt. Du sagtest, du hättest mir viel zu erzählen.«
    Einen Moment lang gefror Penelopes Gesicht, bevor es auftaute und den nächsten, wieder ganz anderen Ausdruck annahm, eine Leidensmaske erzwungener Tapferkeit. Was sie sagte, gab praktisch keinen Sinn. »Bitte, guter Bettler, zwar bin ich sicher, daß Odysseus, mein Gatte, tot ist, aber wenn du mir irgend etwas von seinen letzten Tagen berichten kannst, verspreche ich dir, daß du nie wieder Hunger leiden wirst.«
    Ihm war zumute, als stellte sich ein fester Bürgersteig, auf den er zu treten gemeint hatte, als ein sausendes Karussell heraus. »Warte! Ich verstehe nichts von alledem! Kennst du mich denn nicht? Eben hast du noch das Gegenteil gesagt! Wir sind uns in dem Schloß des Riesen begegnet! Dann haben wir uns auf dem Mars wiedergesehen, wo du Flügel hattest! Dort war dein Name Vaala!«
    Erst verhärtete sich das Gesicht seiner Frau, die auf einmal nicht mehr seine Frau war, dann aber wurde ihr zorniger Blick milder. »Du Armer«, sagte sie mitfühlend. »Nur einige der vielen Schicksalsschläge zu leiden, die meinen erfindungsreichen Gatten ereilten, hat dich um den Verstand gebracht. Ich werde dir von meinen Mägden ein Bett anweisen lassen, ein wenig abseits, wo die grausamen Freier dir nicht das Leben zur Qual machen. Vielleicht weißt du mir am Morgen verständigere Auskunft zu geben.« Sie klatschte in die Hände, und die greise Eurykleia erschien in der Tür. »Besorge diesem alten Mann einen sauberen Schlafplatz, und gib ihm zu essen und zu trinken!«
    »Das kannst du nicht mit mir machen!« Paul beugte sich vor und packte den Saum ihres langen Kleides. Mit einem Auflodern echter Wut fuhr sie zurück.
    »Du gehst zu weit! Dieses Haus ist voll von bewaffneten Männern, die dich nur zu gern umbringen würden, wenn sie hoffen dürften, mich damit zu beeindrucken.«
    Er sprang auf und wußte nicht, was er tun sollte. Die ganze Welt schien mit einem Schlag eingestürzt zu sein. »Kannst du dich wirklich nicht an mich erinnern? Vor wenigen Minuten konntest du es noch. Mein wirklicher Name ist Paul Jonas! Sagt dir das gar nichts?«
    Penelope entspannte sich, aber ihr förmliches Lächeln war steif, geradezu gequält, und einen Moment lang meinte Paul, hinter ihren Augen ein verängstigtes Wesen flattern zu sehen, einen eingesperrten Vogel, der verzweifelt zu fliehen versuchte. Der Eindruck verblaßte; sie winkte ihm zu gehen und wandte sich wieder ihrer Webarbeit zu.
    Draußen vor der Tür legte er der alten Frau die Hand auf die Schulter. »Sag mir, kennst du mich?«
    »Selbstverständlich, Odysseus, selbst in diesen Lumpen und mit deinem grauen Bart.« Sie führte ihn die schmale Stiege ins Erdgeschoß hinunter.
    »Und wie lange bin ich weg gewesen?«
    »Zwanzig schreckliche Jahre, Herr.«
    »Warum denkt meine Frau dann, ich sei jemand anders? Oder daß ich im Begriff sei, nach Troja aufzubrechen?«
    Eurykleia schüttelte den Kopf. Sie wirkte nicht übermäßig beunruhigt. »Vielleicht hat der lange Kummer sie krank
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