Ostwind (German Edition)
Ostwind vollig aus: er stieg auf die Hinterbeine, wieherte verzweifelt, und immer wieder schlugen seine Hufe gegen die Bretterwand.
Unglaubig beobachtete Mika, wie Sam den Futtereimer an eine flaschenzugartige Vorrichtung hangte und ihn langsam zu dem tobenden Pferd hinabließ. Als der Eimer uber dem Gitter schwebte, zog er an einem Seil. Der Inhalt des Eimers ergoss sich pladdernd in den Trog. Die Halfte schwappte als sämige Pfütze auf dem Boden.
Sam kam zuruck zu Mika. »Verstehst du jetzt?«, fragte er grimmig.
Mika hatte verstanden. – Allerdings etwas völlig anderes als Sam. »Ja!! Er will da nicht eingesperrt sein!«, erklärte sie entschieden und wollte an Sam vorbei.
Aber der versperrte ihr den Weg. Er blieb vollkommen ernst. »Hey. Du hast keine Ahnung von Pferden. Also halt dich da raus.«
Mika funkelte Sam böse an. Doch der hielt ihrem Blick stand. Mika gab auf und senkte den Kopf. Wie sollte sie Sam nur klarmachen, dass er sich irrte?
Sam wandte sich wieder der Arbeit zu. »Eigentlich ist es ja Futterverschwendung, aber anscheinend will jemand die Bestie kaufen«, sagte er.
»Ja, der Ungar«, entfuhr es Mika.
Sam drehte sich zu Mika. In seinem Blick lag Entsetzen. »Der Ungar? Wirklich? Woher weißt du das?«, fragte er.
»Wieso, wer ist das denn?«, fragte Mika zurück.
Sams Miene verfinsterte sich. Er packte die Schubkarre und ging an Mika vorbei. »Das willst du gar nicht wissen«, sagte er.
Mika schaute noch einmal zu Ostwind. Warum nur betrachteten ihn alle als wildes und gefährliches Tier? Warum konnten sie ihn nicht sehen, wie er wirklich war?
Ihre Blicke trafen sich. Es war, als würden sie eine stille Ubereinkunft treffen.
»Ich komm wieder«, flüsterte Mika.
6. Kapitel
Nachdenklich ging Sam ins Gutshaus und holte einen Teller mit Essen, den ihm die Haushälterin bereitgestellt hatte. Er packte ihn in einen Korb und ging hinaus, fort vom Gut, die Schotterstraße entlang. An dem efeubewachsenen Bauwagen machte er Halt und klopfte.
Als Sam die Laube betrat, saß sein Großvater mit dem Rücken zur Tür in einem Sessel und spielte auf einer Maultrommel.
»Abendessen«, sagte Sam.
Aber Herr Kaan drehte sich nicht um. Er setzte die Maultrommel ab und sagte in einem sehr bestimmten Tonfall nur ein Wort: »Schuhe.«
Sam verdrehte die Augen, strampelte seine Schuhe ab, trat näher und stellte den Teller auf einen niedrigen Schemel.
»Danke. Willst du mir nicht Gesellschaft leisten?«, fragte nun Herr Kaan, immer noch abgewandt.
Aber Sam wollte lieber schnell wieder gehen. »Hab noch zu tun«, antwortete er ausweichend. Doch gerade als er sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf eine Schnitzerei. Sie zeigte zwei Figuren: ein schlafendes Pferd, daneben einen schlafenden Menschen.
Sam musste unwillkürlich an Ostwind und Mika denken. »Lustig. Genau das hatten wir heute Nacht im Stall. Frau Kaltenbachs Enkelin ist da herumgewandert und eingeschlafen …«
Erst jetzt drehte sich Sams Großvater zu ihm um. »Wo hat sie geschlafen?«, fragte er hellhörig geworden.
»Bei Ostwind. Direkt neben ihm«, erklärte Sam.
Herr Kaan deutete auf die Schnitzerei. »Weißt du, was das ist?«
Sam verstand nicht. Er dachte, der Alte spräche noch immer über Mika. »Das Gluck der Doofen?«, riet er.
Der alte Mann ignorierte Sams Antwort. »Nojrsodsch. Der Schlafer. So nannten die Mongolen Menschen, die mit der Gabe geboren wurden, die Sprache der Pferde zu verstehen«, erklärte er. Mit einem Mal erschien er hellwach. »Es hieß, einer in tausend mal tausend hat …«
Sam unterbrach ihn. »Opa. Kannst du nicht einmal aufhoren mit diesen Marchen.«
Der Alte sah seinen Enkel ruhig an.
Aber Sam hatte keine Lust mehr auf diese Unterhaltung. »Wie auch immer. Gute Nacht«, sagte er und schloss die Tür eine Spur zu heftig.
Er fluchte. Was für ein Tag! Und um ihn herum nur Verrückte!
Auf Mika würde er auf jeden Fall ein Auge behalten müssen. Wenn nötig von morgens bis abends! Wenn sie wieder irgendeinen Unfug treiben wollte, würde er dies zu verhindern wissen! Frau Kaltenbach konnte sich da ganz auf ihn verlassen!
Endlich war es dunkle Nacht. Mika schlich auf nackten Sohlen aus ihrem Zimmer, die Treppe hinab aus dem Haus. Sie trug nichts weiter als ihren Schlafanzug. Im Mondlicht huschte sie hinüber zum Stall. Forschend tastete sie zwischen dem Zaumzeug umher. Endlich fand sie oben auf der Mauer, was sie gesucht hatte. Sie zog einen Schlussel hervor und lachelte zufrieden.
Dann
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