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Opferzeit: Thriller (German Edition)

Opferzeit: Thriller (German Edition)

Titel: Opferzeit: Thriller (German Edition)
Autoren: Paul Cleave
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ersten beiden Reihen versammelt. Meine Mom steht vor dem Altar, neben ihr ist Walt. Walt trägt einen braunen Anzug mit einer breiten braunen Krawatte, und es wirkt wie der Anzug eines Versicherungsvertreters, den man vor vierzig Jahren darin bestattet hat. Meine Mutter trägt ein fließendes weißes Kleid, das aus Satin oder Seide gefertigt ist und sich an all die Körperpartien schmiegt, an die sich Walt vor Kurzem geschmiegt hat, doch in dem Fall lassen diese Körperpartien meine Mutter einfach nur fett aussehen. Die beiden haben sich einander zugewandt. Hinter ihnen steht ein Priester, und er ist der Einzige, der mein und Melissas Eintreten bemerkt. Er unterbricht die Zeremonie nicht, sondern setzt sie einfach vor den versammelten – ich zähle sie kurz durch – acht Personen fort.
    Wir setzen uns ganz hinten hin. Das geht nicht anders, denn wenn wir zu nah nach vorne kommen und meine Mutter oder Walt uns entdecken, dann werden sie mit mir sprechen wollen, und der Priester wird sich zusammenreimen, wer wir sind, und dann wird Melissa ihn erschießen müssen, damit er nicht die Polizei verständigt. Obwohl wir zu vor nicht darüber gesprochen haben, habe ich doch eine vage Ahnung davon, dass Melissa mit mir auf derselben Wellen länge ist, was das Erschießen von Priestern angeht – es bringt kein Glück. Allerdings wurde dem Priester, der früher diese Kirche geleitet hat, der Schädel mit einem Ham mer eingeschlagen. Auch das brachte kein Glück – allerdings in erster Linie bezogen auf ihn selbst.
    Der Priester spricht weiter, und obwohl ich es zunächst nicht sonderlich riskant fand, hier aufzutauchen, habe ich plötzlich Bedenken. Unbeweglich hier zu sitzen erscheint mir gefährlich. In Bewegung zu sein fühlte sich sicherer an. Ich habe das Gefühl, dass es Melissa ähnlich ergeht, weil sie ständig nervös mit den Beinen zuckt.
    »Wie lange wird das dauern?«, flüstert sie mir zu, und wir sind zu weit von den anderen entfernt, als dass uns jemand hören kann.
    »Ich habe keine Ahnung«, erkläre ich ihr. »Ich war noch nie auf einer Hochzeit.«
    »Das Ganze gefällt mir nicht«, sagt sie. »Ich glaube, es war ein Fehler hierherzukommen.«
    »Lass uns noch fünf Minuten warten«, sage ich.
    »Drei«, sagt sie, und ich verzichte auf weitere Verhandlungen.
    Meine Mutter wirkt glücklich. Walt wirkt glücklich. Ich bin angespannt. Der Priester fragt, ob irgendjemand einen Grund vorbringen kann, warum diese beiden nicht vermählt werden sollen. Ich weiß eine ganze Reihe von Gründen. Meine Mutter und Walt spähen hinaus in die Kirche, aber ihr Blick konzentriert sich ausschließlich auf die beiden ersten Sitzbänke. Niemand sagt etwas. Dann stellt der Priester meiner Mutter eine Reihe von Fragen dazu, ob sie Walt wirklich zu ihrem Ehemann nehmen möchte. Die drei Minuten verstreichen. Wir einigen uns auf weitere drei Minuten. Dann werden Walt dieselben Fragen gestellt.
    Dann küssen sie sich.
    Mir dreht sich der Magen um, und genau wie heute Morgen tobt ein Sturm in meinen Innereien. Der Priester und Walt schütteln sich die Hände. Dann erheben sich alle, die Leute umarmen sich, und meine Mom und Walt schreiten hinüber zu einem Tisch und unterschreiben irgendein Dokument. Einer der Hochzeitsgäste tritt vor und beginnt, Fotos zu knipsen. Dann marschiert das glückliche Paar den Gang hinunter auf den Ausgang zu, und sie kommen direkt an uns vorbei, ohne uns zu bemerken. Der Priester öffnet die Tür für sie, die Hochzeitsgäste folgen ihnen nach draußen, und plötzlich sind wir mit dem Priester allein.
    Ich erhebe mich. Ebenso Melissa.
    »Sie sind ihr Sohn, nicht wahr?«, sagt der Priester.
    »Nein«, erkläre ich ihm.
    »Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist«, sagt er, »aber die Kirche ist kein Ort des Asyls. Die Polizei wird Sie hier genauso verhaften wie irgendwo anders auch.«
    »Ich bin nicht für Asyl hier.«
    »Warum sind Sie dann hier?«
    Ich antworte nicht. Ich gehe an ihm vorbei, Melissa richtet die Waffe auf ihn, und er sagt nichts mehr, dann lächelt Melissa ihn an und schlägt ihm auf den Kopf, so ziemlich an derselben Stelle, wo sie Sally auf den Kopf geschlagen hat. Er bricht auch auf ganz ähnliche Weise zusammen, bildet einen ähnlichen Haufen auf dem Boden, nur beansprucht seiner längst nicht so viel Raum wie der von Sally.
    Dann kommt meine Mom zurück in die Kirche, noch bevor wir ihr nach draußen haben folgen können. Die Tür schließt sich hinter ihr, sie entdeckt den
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