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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition)
Autoren: Hermann Kant
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ein Stadtteil durchs Sieb seihen ließ, ohne eine einzige Läuferstange oder einen einzigen Gardinenring preiszugeben, steht bei mir gewandelte Gesinnung, wie der Fachausdruck lautet, nicht zu erwarten.
    Warschau hatte keinen Grund, mich sympathisch zu finden; ich hatte, was das und Warschau betraf, auch keinen Grund. Dennoch verdanke ich meinen Ausfahrten hinter den Loren eine Haltung, die ich bestürzte Zuneigung nenne. Eine Zuneigung, die sich nicht genug über sich wundern kann.
    Aus den Reisen durch die Stadt folgerte ich, man müsse sie zu den Städten zählen. Zur Vermutung drang ich vor, ihre Fremde sei mit Bekanntem versetzt. Mit Freundlichem kaum, aber mit nicht Fremdem. Das reichte, wo alles unbekannt schien und ich mit manchem unbekannt bleiben wollte, zum Gedankensprung. Nach mehreren Anläufen reichte es zu der Erwägung, ganz feindlich könne ein Ort nicht sein, in dem sich auf Teile von Marne treffen lasse. Ich bedachte den Eindruck nicht so sehr, wie ich ihn zu ergänzen suchte. Ich sammelte Ähnlichkeiten. Nicht um mir den Platz sympathisch zu machen, sondern um einen Teil meiner Ängste zu dämpfen. Ich suchte Vertrautes, wo ich Unterschiede sah.
    Zur Straßenbahn, dem Zeichen von Großstadt, den nie gesehenen Trolleybus als Zeichen einer befremdlichen Stadt. Zum Vorstadthaus, wie ich es kannte, dessen auf Dauer unverputzten Zustand, den ich nur von tiefster Armut kannte. Vorherrschaft des Flachdachs. Abwesenheit von Ölfarben und verzinktem Gezäun. Anwesenheit von Stacheldraht auf den Fenstern der Krämerbüdchen. Zum gewohnten Fahrrad die Rikscha aus dem Bilderbuch. Eine Dominanz von dreirädrigen Mobilen. Stetes Mißverhältnis zwischen Tragkraft und Ladung. Keine Straßenbahn ohne eine Außenlast, die fast der Binnenlast entsprach. Kein Waggon ohne blinde Passagiere und ohne statutenblinden Kapitän.
    Und keine Straße, auf der ich nicht allenfalls geduldet und keinesfalls wohlgelitten war. Also her mit jedem unfeindlichen Blick und jedem Schimpf, der unterblieb. Merken wollte ich mir den jungen Kerl, der lediglich Pech gehabt, Kumpel! zu denken schien und entgegen allem Zeitbrauch davon absah, meines bloßen Daseins wegen mit Drommetenschall unter Waffen zu treten. Oder mit krummen Stiefeln in meine Kniekehlen. Ich schrieb es alten Augen gut, wenn sie in mir einen verlaufenen Bengel sahen, und dem Leben trug ich jeden Tag ins Haben ein, der sich mit gewaltfreiem Verlauf begnügte. Im Maße, wie ich in der zerbrochenen Stadt bei heilen Knochen blieb, folgerte ich, es werde sich ihre Fremde einmal verstehen lassen.
    Mein Fehler war, ich sprach zu früh davon. Anstatt ein Gefäß zu bleiben, trug ich Vermutungen vor und stürzte mich ins Wortgetümmel. Da setzte es mit Worten Prügel, und selbst solche ohne Worte wären verdient gewesen. Man hielt sich nur zurück, weil ich ein Reimer war, der jeden Jammer in gruselige Verse zwang. Fühllos steckte ich den einfachen deutschen Satz ins konditionale Streckbrett. Rein mit der Muttersprache in die Eiserne Jungfrau und mit Schwung die dorngespickte Türe zu. Was ich dem geschundenen Wesen abpreßte, nannte ich Gedicht. Reim dich oder ich freß dich als poetische Doktrin und Reime vom Fressen als literarische Disziplin. Das Publikum verlangte gegenständlichste Lyrik und wollte seine unfeine Existenz in feierlichem Gedöns erkennen. Es erwartete Zaubersprüche gegen Gebrechen und bestand aufwohlfeilem Ausweg aus unverschuldeter Lage. Wo es Perspektiven erbat, fertigte ich solche. Wahrlich, bei mir setzte es Lebenshilfe. Von Herzen unvertraut mit der Theorie des sozialistischen Realismus, war ich ihr eifriger Praktiker. Und durfte als Reimeschmied für einen Diplomingenieur der menschlichen Seele gelten.
    Womöglich war es dies, was dem Führer aller Dichter so gefallen hat, daß er mich in den Kreml rufen ließ, um mir Weisung zu erteilen. Mir, eines greinenden Kriegsvolks verdienten Knittler. Dem Jungbarden, der seine jammernde Gemeinde sehr verdiente. Und sie fast verlor, wenn er ihr nicht nach dem Munde sang.
    Zurück zu dem Teil von ihr, der sich an Warschaus Geröll als kollektiver Sisyphos versuchte. Und zurück zu dem Individuum, das ihr den Dolmetsch machte: Solange ich Klagen und Seufzer gefällig bündelte, gingen meine Staubgenossen duldsam mit mir um. Übten Nachsicht, wenn ich überm Reim in die Lagen anderer geriet. Schlugen nicht gleich, wo ich überm Sand in unseren Schuhen den Schutt ringsum nicht unterschlug. Man erklärte sich mich:
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