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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition)
Autoren: Hermann Kant
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der Schriften auf denselben Text hinaus. Trotz der Okkupation meines Denkens konnte ich einige Drucksätze zusammenfügen. Die Aufsichtführende hieß Agnieszka und teilte meine Legendenzeit bekömmlich ein. Tagsüber, wenn ich beim Fahnden nach fehlenden Lettern meine unmäßigen Gedanken zu übertönen suchte, trug sie ihre Pistole durch das leere Haus, putzte Fenster, kochte Suppen, strich Türen an, richtete Stuben her, schrieb Berichte und schnallte nicht einmal bei Tische ab. Abends, und sie entschied, wann wir Abend hatten, schloß sie mich in die Kammer.
    Von innen. Und ich erfuhr ein weiteres Mal, wie beschaffen sie buten un binnen war. Und teilte mich, anders als über Tag, ins Bestimmen mit ihr. Fühlte mich auf Bildungsreise. Hatte Aufenthalt im Urstromtal. Eine Woche lang die Uhren angehalten. Nach J. W. Stalin, welcher, er hatte es unter meinen Ohren gesagt, den Papst beneidet, jetzt Agnieszka, die tatkräftig leidet.
    So wurde meine Überzeugung befestigt, daß ich es mit dem Beruf nicht schlecht getroffen hatte. Textura, New Roman und Sanserif waren nicht nur Schrift-, sondern Lebensarten. Der Abstand zwischen Kopf und Fuß einer Letter heißt Schrifthöhe , unterwies mich einst mein Lehrmeister Bruhns. Was aber sich alles eintragen läßt zwischen Fuß und Kopf, das lehrte mich Agnieszka, und manches war die Höhe. So daß sich sagen läßt, mit einigen Leuten, die mir in Stalins Auftrag ein Alibi verschafften, traf ich es gut. Die Agnieszka-Legende paßte mir sehr. Paßte, als wäre sie mir auf den Leib geschnitten. Oder auf einen, der tagsüber Koppel trug.
    »Sie sind zu Zwecken der Ordnung in einem Haus bei Warszawa gewesen, und weiter ostwärts kamen Sie nicht«, sagte mein letzter Begleiter. »Falls Ihnen nach Plaudern ist: Es war schon einmal gut, sagen zu können, erheblich über die Weichsel hinaus seien Sie kaum gekommen. Warum sollten Sie nicht bei dieser einfachen Wahrheit bleiben?«
    So habe ich, obwohl es gegen meine Natur ging, von derart bemerkenswerten Leuten zu schweigen, Agnieszka und Stalinsorglich weggesperrt. Ich sie; das war doch einmal etwas anderes. – Meist erwies sich als leicht, Kreml und Kinderheim auszulassen. Von dem Völkerkommandanten und seinem Okarinenspiel hielt ich den Mund, da es mir empfohlen worden war, und von Agnieszka teilte ich nichts mit, weil ich sie nicht teilen wollte. Weil der männliche Gemeinsinn kein Ende nimmt, wenn einer gesagt hat, er habe einmal eine gekannt, ließ ich dort keine sein, wo Agnieszka gewesen war, und tauschte das Mädchen mit Pistole gegen einen bärtigen Posten mit Schrotgewehr aus.
    Nur geriet ich fast ins Plappern, als ein Kamerad sichere Nachricht hatte, die Russen hätten die Komintern neu gegründet. Da wollte ich Bescheid geben von der Prawda , der ich Hering und Brot entnommen hatte und dazu die Meldung von einer Konferencja bei Warszawa. Doch unterband ich mein Sagen, ehe es zu Fragen führte. Schon gar ließ ich das Stichwort Flintenweiberei wie ungehört verhallen.
    Ich steckte ohnedies in Schwierigkeiten, weil ich in einem entscheidenden Augenblick den Mund nicht halten konnte. Verfluchte Besserwisserei; war ich denn nicht bekannt mit ihren Folgen? Schon möglich, Stalin meinte diesen Auftritt, als er mich zu den Leuten zählte, die sich, falls nötig, selbst Befehl erteilen. Zwar wußte ich nicht, woher er es wußte, aber er wußte es. Ich meinerseits ahnte nicht, warum ich mich an einem Warschauer Tag im September des Jahres 1947 ins Wortgetümmel geworfen hatte. Drei Wochen, bevor mich der Marschall holen ließ, und drei Wochen, seit ich im Ghettolager war. Wollte ich es mit dem Unsinn begründen, den meine Kumpane von sich gaben, lüde ich die Frage ein, warum ich nicht schon früher von Schemeln und Bänken gepredigt habe.

2
    Ich spräche nicht wieder davon, wüßte ich, es hätte vorher verfangen. Und wende mich gegen den verschnittenen Vorwurf, ich habe doch Grips genug, meine Zunge im Zaum zuhalten. Nie wurde mir ein IQ errechnet wie jetzt, wo man anklagend mit mir verfährt. Wie konnten Sie nur, Sie mit Ihren Gaben! Verstehe ich recht, hätte mich Dummheit vor der heutigen Lage bewahrt.
    Die damalige war so: Ich hatte zu Hause in Ängsten gelebt und sah in Warschau die Gründe dafür. Keine Rede von Klugheit. Ich war dumm genug, hinzusehen auf den Rest von Stadt. Ich fragte, wer ihr die Augen ausgestochen habe, die Zunge ausgerissen, die Zähne in den Kiefer getreten, die Kehle eingedrückt, den Schlund mit
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